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Nabil hielt sich an der Wand fest und versuchte das Blut zu ignorieren, das seine blütenweißen Laken bedeckte. Jegliches Zeitgefühl war ihm abhanden gekommen. Der Flug war stabil, das einzig gute an dieser Situation. Abgesehen natürlich von der Tatsache, dass die Frau in seinem Bett ein gesundes Kind im Arm hielt. Aber das ganze Blut...

Es war auf so viele Arten furchtbar gewesen. Wie konnten Frauen das durchstehen? Warum bekamen manche sogar mehr als ein Kind? Mutter und Großmutter lächelten dankbar, wenn auch mehr zu Samira als zu ihm. Sie war beeindruckend effizient gewesen. Wenn sie dass hier überlebten, würde er ihr Gehalt erhöhen. Im Moment hätte er allerdings nur gern seinen Schlafpatz zurück. Das Kingsize Bett war aus Birnenholz und unfassbar bequem. Er war so müde. Adla krächzte pikiert aus dem verzierten Wandschrank. Als die Schreie angefangen hatten, war die Falkendame in sein Ankleidezimmer umgezogen. Dort war es definitiv ruhiger. Er wünschte, er hätte bei ihr bleiben können. Immerhin verfügte der Raum neben Kleidungsschränken und Spiegeln auch über eine bequeme Chaiselongue. Sein Anstand verbot ihm allerdings, die Frauen zurück zu lassen. Es war merkwürdig. Neues Leben brachte immer Hoffnung mit sich. Die Stimmung in diesem Raum war euphorisch, fast glücklich. Niemand dachte an die Vermissten, alle konzentrierten sich auf den Säugling. Die Tür öffnete sich und Becca streckte ihren Kopf hinein. Ihre dunklen Haare waren zerzaust, die Uniform falsch geknöpft. Ob sie geschlafen hatte? Er ging zu ihr und nahm einen Fleck am Hals wahr. Nun, offenbar ging wirklich jeder mit dieser Situation anders um. Becca versuchte nicht einmal, ihre Erscheinung zu retten und richtete ihm lediglich aus, wofür sie gekommen war. Martin wollte ihn sehen. Sein Magen machte einen nervösen Sprung. Es war soweit. 

Martin wartete außerhalb des Cockpits auf ihn. Wenn möglich war der Mann noch bleicher als noch vor ein paar Stunden. Als Nabil zu ihm trat, knabberte Martin an einem Fingernägel. 

„Der Copilot da drinnen ist mein Sohn." Martin vermied Blickkontakt und starrte an einen Punkt hinter Nabils rechter Schulter. „Er ist auch Pilot, beinahe zumindest. Ich dachte, du solltest das wissen." Eine Ähnlichkeit war ihm nicht aufgefallen. Er hätte aufmerksamer sein sollen. 

Nabils Augen brannten. So müde. „In Ordnung. Warum hast du mir das nicht gleich gesagt?" War er ein so schlechter Chef, dass Martin sich nicht getraut hatte? 

„Ich dachte, ich könnte ihn retten." Martin wich seiner Frage aus. Dann straffte der Ältere seine Schultern. „Uns geht das Kerosin aus." Sein Adamsapfel hüpfte wie ein kleiner Ball. 

Der Druck nahm zu. „Dann ist es also soweit." Nabil schloß die Augen. Was wohl sein Vater an seiner Stelle getan hätte? Sollte er noch etwas sagen. Die Anderen darauf hinweisen oder sie in ihrer Blase der Ahnungslosigkeit lassen? Die Blitze hatten aufgehört, außerhalb des Fensters war nur klarer blauer Himmel über grünen Wolken zu sehen. Irgendwie ein schöner Anblick. Seine Finger fuhren über die edle Blumentapete des Vorraums. Folgten den Schwingungen einer Blüte. Lavendelblau mit silbernen Sprenkeln. „Wieviel Zeit haben wir noch?" 

Martin warf einen Blick auf seine Rolex. Wenn Nabil sich nicht irrte, war es die Uhr, die sein Büro als Weihnachtsgeschenk für die männlichen Angestellten geordert hatte. „Vielleicht zwanzig Minuten. Keinesfalls mehr als eine halbe Stunde." 

Zwanzig Minuten. Das neue Leben, das in seinem Gemach gefeiert wurde, hatte gerade einmal zwanzig Minuten. Das war so unfassbar traurig. Das Brennen hinter seinen Augen wurde stärker und Nabil musste schlucken, um das Engegefühl aus seinem Hals zu vertreiben. Wieviel Zeit er in seinem Leben schon sinnlos verprasst hatte und nun blieben gerade einmal zwanzig Minuten. Martin blickte ihn erwartungsvoll an. Was sollte er sagen? „Scheiße." 

Er schlug mit seiner Faust gegen die Blüte, die er gerade noch untersucht hatte. Ihm gingen die Möglichkeiten aus, aber er war noch nicht bereit für die Konsequenzen. Er wollte nicht. Der Schmerz in seinen Knöcheln bot ihm halt, so merkwürdig es auch war. Martin sagte die ganze Zeit kein Wort. Nur das Brummen der Motoren umgab sie. „Fliegt gerade dein Sohn?", fragte Nabil, um den Moment noch etwas hinaus zu zögern. 

Martin schüttelte den Kopf. Die Frage schien eine Brücke zwischen ihnen zu bilden und endlich suchte der Pilot Nabils Blick. „Nein, der Autopilot. Michael ist zu aufgewühlt." 

Verständlich. 

Martin sprach weiter. „Ich habe ihn vorhin in den Aufenthaltsbereich der Crew geschickt, damit er sich ausruhen konnte. Aber seit einer viertel Stunde ist er wieder da. Aber es scheint ihm besser zu gehen. Ich hoffe er hat geschlafen."

Es wurde Zeit. Nabil nickte, dann legte er eine Hand auf die Schulter des Piloten. Es war ihm nie aufgefallen, dass Martin so viel kleiner war als er selber. Doch der Ältere reichte ihm gerade bis zum Kinn. „Wir machen es langsam und unauffällig. Wir wissen nicht, was uns erwartet. Wenn es dir möglich ist, tauche so leicht wie es geht in die Wolken ein. Vielleicht geht es schnell. Vielleicht nicht. Aber wenigstens sollte es sanft geschehen." 

Martin legte ein Hand auf Nabils Unterarm und drückte ihn. Eine kurze, zustimmende Geste. 

„Dein Sohn kann gerne mit mir in die Lounge kommen, wenn du nicht möchtest, dass er dabei ist." 

„Ich möchte es nicht, aber er wird sich nicht davon abbringen lassen." 

„Er wird bei dir sein wollen." 

Martin nickte. Dann drehte er sich um und kehrte zum Cockpit zurück. 

Nabil blieb noch einen Moment im Vorraum stehen. Er genoss die Ruhe. Die Motoren sangen, doch niemand starrte ihn erwartungsvoll an. Eigentlich hatte er zurück zu Adla gehen wollen. Doch was sollte er sagen, wenn ihn jemand ansprach? Seine Finger glitten über die Flügel seines Anhängers. Etwas zog ihn in die Lounge. Etwas, oder jemand. Er schüttelte den Kopf. Was war er nur für ein Idiot, dass er in so einem Moment menschliche Nähe suchte?

Das Sonnenlicht, dass durch das Fenster schien, verspottete ihn. Alles in ihm behauptete, dass es mittlerweile tiefste Nacht sein sollte, aber sie waren immer weiter nach Osten geflogen. Langsam ging er zurück in die Lounge. Jemand hatte das Licht gedämpft und die Fenster verdunkelt. Er tippte auf Amir. Der Psychologe schlief auf dem Sofa, ein leises Schnarchen war zu hören. Lotte lag neben Henrikes Sitz in einem Bett aus Kissen, das Gesicht entspannt. Nur die Kindergärtnerin sah auf, als er eintrat. Er nahm wieder in seinem Sessel Platz. Ihre Augen waren rot, offenbar hatte sie geweint. 

„Geht es los?" Ihre geflüsterte Stimme erreichte sie kaum. 

„Ja", antwortete er nach kurzem Zögern. 

„Sollen wir sie wecken?" 

Er schaute sich im abgedunkelten Raum um und schüttelte den Kopf. „Ich denke nicht. Es ist gnädiger zu schlafen, als sich zu fürchten." 

Henrike nickte, setzte sich aber dennoch neben das kleine Mädchen. Vorsichtig strichen ihre Finger eine Locke aus dem Kindergesicht. Die Tischlampe auf dem Couchtisch spendete warmes Licht, ohne zu blenden. Wie ein stiller Wächter, der böse Geister vertrieb. 

Den Moment, in dem Martin den Sinkflug einleitete, bemerkte Nabil nur, weil sein nervöser Magen darauf geachtet hatte. Henrike blieb ganz ruhig. Er hoffte nur, daß alles schnell gehen würde. Es holperte und Nabil spürte förmlich, wie sie die Wolken berührten. Es gab einen kurzen Lichtblitz, dann würde alles schwarz.

Reset - eine Göttermeer GeschichteWo Geschichten leben. Entdecke jetzt