14 Poetry Slam Spezial

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NEUANFANG

Heute ist der Tag an dem ich neuanfang.

Es ist ein Dienstag, schon Acht Uhr Acht,
es gießt wie aus Eimern
und ich hab meine Hausaufgaben nichtgemacht.
Ich sitz' in der Bahn und bin viel zu spät dran,
kannich ja nichts für, wenn die so scheiße fahr'n.

Verdammt.
Ichhab zwei verschiedene Socken an,
hab im Stress vergessen Deo zunehmen
und meine Augenringe sind von weitemschon zu sehen.
Ich fang' in der Bahn mal wieder an zu weinen,
vorAngst und vor Wut, weil ich merke,
meine eigenen Gedanken tun mirnicht gut.

Jetzt stehe ich vorm Spiegel und wisch' meinenMascara ab,
ja klar ich hab's verpeilt wem Bescheid zusagen.
Mittlerweile ist es schon Acht Uhr Zwei-Sieben
undich werd 'nen riesigen Anschiss kriegen,
doch verdammt, was tutdas eigentlich zur Sache?
Nur weil ich einmal nicht mache,
wasvon mir erwartet wird sondern hier stehe
und lache?

Ja ichlache mir selbst ins Gesicht,
denn ich tue hier, was das Richtigeist,
nicht für mein Abi oder in den Augen meiner Lehrer
-sondern für mich.

Ich atme tief ein und auch tief wiederaus,
es ist doch noch nicht mal Neun Uhr am Morgen,
doch ichbin schon voll mit meinen Ängsten und Sorgen.
Mein Blick schonvernebelt, mein Herz schon so schwer,
mein Rücken verbiegt sich -
wo kommt dieser Druck bloß her?
Ichbin doch erst seit vier Stunden auf den Beinen
und mir ist schonzum Weinen
und zum Kotzen erst Recht.

Das hier ist nichtokay, das lass ich nicht zu.
Ich scheiß auf den Englisch LK oderPolitik
und seh' zu, dass ich erstmal meinen Lebenswillenwiederkrieg.
Ich gönne mir selber diese halbe Stunde Zeit
undblicke zurück auf die letzten Wochen,
mein Herz wurde gebrochenvon einem Typen,
der mal alles für mich war,
Bin gefallen,aufgestanden, am Tag direkt darauf mein Vorabi bestanden,
hab mirzuhause angehört, wie furchtbar ich bin,
sie hätten doch lieberein anderes Kind,
Zehn Minuten später saß ich dann im Zug,
aufdem Weg für ärmere Menschen was gutes zu tun.

In der Therapiedas erste Mal über mein Trauma gesprochen,
daran bin ichzerbrochen,
doch hab ich kein einziges meiner Versprechengebrochen,
gleich danach hab ich mit dir für Spanischgelernt,
nein, nein, kein Problem ich mach das doch gern.

Ichleite eine AG für Menschenrechte,
gehe jeden Tag zurSchule,
schreibe sechsstündige Klausuren,
gebe Nachhilfewährend ich vom Bus zur Bahn hetze,
ich spiele Theater,
ichschreibe ein Buch
sehe zu dass ich meine Oma von Zeit zu Zeitbesuch'.
Ich drehe zwei Filme,
pass auf den Nachbarsjungenauf,
mein Handy, das ist nachts immer auf laut,
falls einermeiner Freunde Hilfe braucht.
Mein Vater hat ein neues Hausgekauft,
auch ein Umzug ist schwer
ich vernachlässige meineFreunde oft viel zu sehr,
mein Bruder sagte neulich zu mir
„Wannsehe ich dich mal wieder? Du bist ja nie mehr zuhaus!"
Tut mirleid, ich muss los,
aber ich habe dich lieb kleine Maus.
Im Buszum Arzt der Aufsatz über die Krise in Spanien,
aber mal im Erns,
Vektorrechnung bekomme ich jetzt nicht auch noch hin.

MeineDamen und Herren -
so sehen 5 Tage in meinem Leben aus,
dabeibin ich kaputt und ich mein seelisch,
schon immer gewesen.
Dochich brauche kein Mitleid, keine Almosen oder Spesen,
aber jetztstellen Sie alle sich mal vor, Sie wären schwer krank,
Ihre Händeam zittern und Sie sind weiß, wie 'ne Wand.
Um Fünf Uhr Zwanzigklingelt der Wecker
und dann stehen Sie auf.
Jetzt geradewälzen Sie sich von der Seite auf den Bauch,
denn es ist schonZwanzig nach Zwei und Sie können nicht schlafen.
Auf Sie wartetmein Alltag, bis abends um Zehn,
es gibt keinen Weg ihn zuumgehen, Sie müssen aufstehen.
Denn wenn Sie einfach zu Hausebleiben,
sind Sie mit sich selbst nicht mehr im Reinen.

Die Schuldgefühle fressen Löcher inIhren Bauch
und deshalb stehen sie Punkt Fünf Uhr Zweiundzwanzigwieder auf.
Da fällt Ihnen ein, Sie haben seit 12 Stunden nichtsgegessen,
bei all dem Stress haben sie auch das Trinkenvergessen,
Das ist mies gelaufen und ein ziemlicher Schreck,
aberjetzt müssen Sie zum Bus -
doch der fährt Ihnen vor ihrer Naseweg.

Und jetzt ist es schon Acht Uhr Acht.
Sie haben esnach dieser furchtbaren Nacht geschafft,
Sie sind fast am Ziel unddann kommt alles hoch.
Dazu diese Angst furchtbaren Ärger zukriegen,
Sie wünschten Sie würden jetzt wieder im Bett liegen,
doch Sie alle stehen vor diesem Spiegel
und ich stehe da auch.
Ich guckemich an.
Ich bin stolz, dass der Mensch, den ich sehe das allesaushalten kann.
Ich schulde mir selber an ein paar freieMomente,
bevor ich wieder an meine Verpflichtungen denke.
Esgongt schon zur Pause, doch ich habe nichts verpasst.
WederRousseau, noch Fraenkel könnten mir geben,
mich selbst, wie ichbin so anzunehmen.
Ich atme durch und sehe mich an
„Danke"sage ich im Stillen zu mir,
Danke, dass ich mich immer auf michverlassen kann.

Und in diesem Moment liegt mein Neuanfang.

RêverieWo Geschichten leben. Entdecke jetzt