2. Nacht: Tonis Vergangenheit

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TONI

Verdammt, was ist nur los mit mir? Ich habe die ganze Zeit diese scheiß Wut in mir und kann mich nicht mehr kontrollieren. Ben ist ein Arsch. Jedes Mal, wenn ich ihn sehe, würde ich ihm am liebsten die Fresse polieren. Er tut sooo unschuldig, reißt dumme Witze und lacht, als wäre nie was gewesen, als hätte meine kleine Schwester nie diesen Unfall gehabt.
Ich sitze in meinem Zimmer auf dem Bett und die Erinnerungen stürmen auf mich ein.

Es ist jetzt schon drei Jahre her und trotzdem verfolgen mich die Ereignisse von damals. Fiona war gerade sieben geworden und zum ersten Mal mit uns anderen im Sommerlager. Ben war auch in unserer Pfadfindergruppe und wir verstanden uns echt gut. Ben und ich waren fünf Jahre älter, als Fiona und sie schaute zu Ben auf, was dieser Idiot natürlich ausgenutzt hat. Am zweiten Tag hatte er es irgendwie geschafft seinen einen Fahrradhanschuh, den er für die später geplante Fahrradtour brauchte, in einen Baum zu werfen, wo dieser dann hängen geblieben war. Weil der Ast, an dem der Handschuh hing, zu dünn war, um ihn oder mich zu halten, überredete er meine kleine Schwester auf den Baum zu klettern.
Und das, was dann passierte, spielt sich immer wieder vor meinem inneren Auge ab:
Wie sie sich streckte und sich der Ast unter ihrem Gewicht bog, als sie nach Bens Handschuh griff.
Ihr erschrockenes Gesicht, als der Ast mit einem lauten Knacken nachgab. Danach der dumpfe Aufprall und mein Schrei.
Wir haben einen Krankenwagen gerufen, aber sie war unglücklich gefallen. Die Ärzte meinten sie hätte nicht mehr viele Schmerzen gehabt.

Sie wäre jetzt 10, fast so alt wie Marie.
Marie ist ihr so ähnlich! Ich habe mich manchmal dabei erwischt, wie ich Marie in Gedanken kleine Maus genannt habe, denn so habe ich Fiona immer genannt. Aber jetzt ist Marie auch tot und alles stürzt auf mich ein. Die Trauer, die Hilflosigkeit... Ich muss hier raus!

Ich trete auf die Straße hinaus und lasse die Haustür hinter mir ins Schloss fallen. Mittlerweile ist es schon dunkel und bis auf eine streunende Katze, die gerade von einem Balkon springt und hinter einer Hecke verschwindet, liegt die Straße wie ausgestorben da. Ich habe keine Jacke an und langsam macht sich die Kälte bemerkbar. Hoffentlich bekomme ich so bald einen klaren Kopf. Ich laufe los. Einfach irgendwo hin. Alles zurrücklassend um meine Gedanken zum Schweigen zu bringen.

Aber es hilft nicht. Das enge Gefühl in meiner Kehle nimmt nur zu, sodass ich beinahe keine Luft mehr bekomme. Fiona, Marie, Freddy, sie sind alle tot. Wie kann ich das verantworten? Ich hätte etwas tun müssen. Stattdessen habe ich viel zu lange gebraucht um das Spiel zu verstehen. Ich bin schon fast das Klischee vom Muskelprotz mit Spatzenhirn, so lange habe ich gebraucht um zu kapieren, dass wir das Werwolfspiel spielen und dass die Opfer wirklich sterben. Eine Welle von Selbsthass überrollt mich und ich steigere mein Tempo.

Als ich aufblicke und meine Umgebung wieder wahrnehme, erkenne ich, dass ich auf dem Weg bin, der hinter dem Freibad entlang führt. Ich bleibe wie angewurzelt stehen, denn im Dunkeln kommt eine Gestalt auf mich zu. Ein Werwolf?

Doch dann tritt sie aus dem Schatten der Bäume hervor und ich erkenne Lisa. Was macht sie hier? Es sieht so aus, als würde sie den Zaun auf Löcher abscannen. Will sie ernsthaft ins Freibad einbrechen? Sie blickt sich nervös nach allen Seiten um und entdeckt schließlich mich in der Dunkelheit. Sie verzieht erschrocken das Gesicht. Ich stürze auf sie zu und lege ihr die Hand auf den Mund, bevor sie schreien kann. "Was zur Hölle machst du hier?" ,flüstere ich. "Ich habe mein Buch im Freibad liegen gelassen und die Stelle war echt spannend!" "Und deshalb willst du bei Nacht und Nebel ins Freibad einsteigen?" Ich blicke sie ungläubig an. Sie nickt betreten und beißt sich auf die Unterlippe. "Du weißt aber schon, dass die Werwölfe hier irgendwo herumlaufen könnten?" ,erinnere ich sie, "Wir haben Glück, dass der Mond noch nicht aufgegangen ist, sonst wäre vielleicht einer von uns Hackfleisch!" Sie blickt zu Boden, sieht mich dann aber flehend an. "Das ist wichtig!" Sie wendet sich von mir ab und läuft weiter den Zaun entlang.
Ich muss etwas tun. Wenn sie ein Werwolf ist, bin ich vielleicht ihr nächstes Opfer und das gerade war nur eine Ausrede, aber wenn sie kein Werwolf ist, ist sie in genauso großer Gefahr wie ich. Ich muss sie irgwedwie in Sicherheit bringen! , ist alles, woran ich denken kann und plötzlich bewegt sich mein Körper automatisch. Ohne, dass ich auch nur realisieren kann, was ich da gerade tue, schnappen sich meine Hände ein abgebrochenes Stück Rohrleitung, dass im Gebüsch lag und meine Beine rennen auf Lisa zu.

Als das Rohr sie am Kopf trifft, gibt es einen dumpfen Laut und Lisa sackt zu Boden. Ich lasse das Rohr sofort fallen und beuge mich über sie. Sie scheint bewusstlos zu sein, aber zu meiner Erleichterung atmet sie gleichmäßig. Ich kann auch kein Blut erkennen. Wie in Trance ziehe ich mein Handy hervor und rufe einen Krankenwagen. Diese Situation kommt mir unheimlich bekannt vor.

Erst als ich die näherkommende Sirene höre, dringt das Geschehene in mein Bewusstsein vor. Wenn der Krankenwagen hier ankommt, wird Lisa in Sicherheit sein, aber ich habe sie grundlos niedergeschlagen. Angst durchfährt mich und ich hebe das Rohr auf. Meine Finger umklammern es so fest, dass sie weiß werden, während ich mich, so schnell ich kann, in die Gegenrichtung der ankommenden Wagen entferne.
Aus dem Augenwinkel erkenne ich gerade noch, wie der Wagen neben Lisas Körper zum stehen kommt, dann werfe ich das Rohr ins Gebüsch und nehme die Beine in die Hand.
Zum zweiten Mal in dieser Nacht renne ich kopflos durch die Straßen, doch diesmal verfolgt mich neben der Schuld auch die Angst.

Der Mond geht auf und beleuchtet meinen Weg. Mir läuft ein Schauer über den Rücken und in nicht allzu weiter Ferne, kann ich ein Heulen hören, das mir durch Mark und Bein geht. Ich steigere mein Tempo und schlage eine andere Richtung ein. Mein Zuhause ist zu weit weg. Die Wölfe hätten mich eingeholt, bevor ich es erreicht hätte. Warum habe ich das Rohr vorhin weggeschmissen? Meine Füße tragen mich wie von selbst in den Wald, was bei genauerer Betrachtung keine gute Idee ist, aber in meinem Gehirn hat es wohl einen Kurzschluss gegeben. Ich kann nur noch daran denken, dass ich verfolgt werde und um mein Leben rennen.

Sie holen auf. Ich kann schon das Rascheln der Pfoten im Laub hören und bilde mir ein ihren Atem im Nacken zu spühren, da taucht auf Einmal ein großer Baum vor mir auf. Wölfe können nicht klettern, oder?, frage ich mich selbst, als ich den untersten Ast packe und mich daran hochzuziehen beginne. Hinter mir ertönt ein lautes Knurre und mein Herz rast noch schneller als zuvor. Ich habe es mit dem Oberkörper schon auf den Ast geschafft, als sich scharfe Zähne in meinen linken Knöchel bohren. Mir entfährt ein Schmerzensschrei, der mit Geheul beantwortet wird. Ich kann nicht nach unten sehen. Ich muss alle Kraft aufbringen, die ich habe, um nicht abzurutschen, während der Schmerz in meinem Bein immer schlimmer wird. Ich versuche mich aus dem stahlharten Gebiss des Wolfes zu befeien, aber dieser hängt nun mir seinem ganzen Gewicht an mir. Mein Fuß wird taub und ich spüre, wie das Blut an meinem Bein herabrinnt. Dann rutscht meine Hand ab.

Wenn das das Ende ist, sterbe ich genauso wie Fiona. Schießt es mir durch den Kopf, Hoffentlich sehe ich sie wieder, aber der Fall ist kurz und ich spüre das Knacken meiner Nase, als ich mit dem Gesicht auf einer Baumwurzel aufschlage. Ein Pochen in meinem Schädel und ein Brennen in meinem Bein, sind die einzigen Dinge, die ich noch registriere. Dann stürzen sich die Werwölfe auf mich und das Denken hört entlich auf.

The Werewolf gameWo Geschichten leben. Entdecke jetzt