LILITH
Es ist Lisa.
Sie steht im Licht einer Straßenlaterne und blickt ängstlich in meine Richtung. Sie hält ihr Buch wie einen Schild an die Brust gedrückt, als solle es sie beschützen. Sie späht durch die Dunkelheit und als sie mich auf sie zukommen sieht, mischen sich die Emotionen in ihrem Gesicht. Beunruhigung, Besorgnis, Verwirrung, Furcht, das alles kann ich in ihrem Gesichtsausdruck erkennen.
Der Teil von mir, der nicht dem Hunger gehorcht, bekommt Angst. Ich habe zu wenig Kontrolle. Mein Instinkt hat mich von allein zu ihr zurückgeführt. Es ist unausweichlich.
Schritt für Schritt pirsche ich mich weiter an die Beute heran. "Lilith?", fragt Lisa vorsichtig. Ich fletsche automatisch die Zähne und knurre. Sie bewegt sich kein Stück. In Gedanken flehe ich sie an zu laufen, sich vor mir in Sicherheit zu bringen, aber ich kann nicht sprechen. Und sie vertraut mir zu sehr, oder sie ist vor Angst gelähmt. Ich bin jetzt nurnoch einen Meter von ihr entfernt. Zu meiner Überraschung weht mir ein leichter Rosenduft in die Nase.
Rosen sind ein Symbol der Liebe. Ich liebe Lisa, ich darf sie nicht fressen! Ich klammere mich an diesen Gedanken, aber der wölfische Teil, der die Kontrolle hat, schert sich nicht darum.
Ich konzentriere mich mit aller Kraft und schaffe es kurz die Beine in den Boden zu stemmen und anzuhalten, aber dann weht mir erneut ihr Geruch entgegen, der Geruch nach Mensch und alle meine Wehrwolfsinne überschlagen sich. Meine Beine setzen zum Sprung an.
Genau in diesem Moment überwindet Lisa ihre Schockstarre. Sie schleudert mir ihre Tasche entgegen und ergreift endlich die Flucht, das Buch hält sie noch immer fest umklammert. Die Tasche trifft mich mit voller Wucht an der Schnauze und der Schmerz treibt mir Tränen in die Augen. Ich stoße ein lautes Heulen aus , schüttele kurz den Kopf und wetze hinter Lisa her.Sie kommt nicht weit. Schon drei Häuser weiter, habe ich sie eingeholt. Ich nutze meinen Schwung, stoße mich vom Boden ab und mache einen gewaltigen Satz auf ihren Rücken. Lisa stößt einen erstickten Schrei aus.
Ihre Beine geben unter ihr nach und sie schrammt sich Hände und Knie auf dem Asphalt auf, als sie hinfällt. Ich lande neben ihr.
Irgendwo ertönt ein Grollen, aber ich bin abgelenkt. Der Geruch nach frischem Blut umgibt mich und das einzige, was ich denken kann ist: Fressen! Frisches Fleisch! Saftig!
Ich vergesse, dass Lisa meine Freundin ist, dass sie der einzige Mensch ist, der das Chaos versteht, in dem wir stecken, dass ich mir geschworen habe, sie nicht zu verletzen und dass ich ohne sie nicht leben kann. Ich stürze mich auf sie und schlage meine Zähne in ihren Hals. Sie hat weder Zeit aufzustehen, noch zu schreien. Ihre Augen verdrehen sich. Sie versucht noch einmal gurgelnd Luft zu hohlen, dann breche ich ihr mit einem Ruck das Genick. Das Blut ströhmt aus ihrem Hals und bildet eine Lache unter ihr. Es tränkt die Seiten des Buches, welches ihr beim Sturz aus der Hand gefallen ist.Auf einmal höre ich ein lautes Grollen am Himmel und es beginnt in Strömen zu regnen. Mein Fell ist in Sekundenschnelle durchnässt. Lisas Blut wird vom Regen weggespült. Es blitzt und der Donner folgt in kurzem Abstand. Meine Nackenhaare sträuben sich und die wölfischen Instinkte befehlen mir irgendwo Schutz zu suchen.
Ich lasse Lisa dort liegen und stürze davon.In der hölzernen Grillhütte am westlichen Ende des Parks verwandele ich mich zurück.
Meine Knie geben nach und ich sacke als nasses Häuflein Elend auf dem festgetretenen Boden zusammen. "Nein! Nein! Was habe ich getan?", wimmere ich. Es fühlt sich an, als hätte mir jemand alle lebenswichtigen Organe herausgeschnitten. Alles schmerzt und mein inneres fühlt sich hohl an. Ich krümme mich weiter zusammen, aber ich weiß, dass es nicht besser werden wird.
Ich habe Lisa getötet. Ich habe ihr die Kehle durchgebissen, obwohl ich geschworen hatte, dass ich nicht zulasse, dass ihr etwas passiert. Ich konnte sie nicht vor meinem wölfischen Ich retten. Die regennasse Kleidung klebt mir am Körper und ist mit Dreck und Blut beschmiert, aber das einzige, an das ich denken kann, ist der Verlust. Ein weltverzehrender Schmerz, der von mir Besitz ergriffen hat. Zum dritten Mal in dieser Nacht weine ich, aber diesmal kann ich nicht aufhören.
In meine Trauer mischt sich Wut. Wut auf mich selbst, dass ich es nicht geschafft habe, dass ich nicht stark genug war um Lisa zu beschützen.
Meine Hände ballen sich zu Fäusten, aber es ist sinnlos. Ich kann nichts mehr tun. Ich habe versagt und es gibt nichts mehr, für das ich kämpfen kann.
Und dann weiß ich es. Alle meine Freunde sind tot. Freddy ist tot. Lisa ist tot. Alleine kann ich nicht weiterleben.
In diesem Moment, auf dem dreckigen, mit Kippen und Kronkorken übersähten Boden dieser Hütte, wird mir eines klar. Ich weiß jetzt, wie Mara sich dort im Wald gefühlt hat, als sie mich anflehte ihr Leben zu beenden. Ich fühle die gleiche Schuld und das wird den Rest meines Lebens so bleiben.Ich kann nicht mehr! Ohne Lisa, ohne die anderen, in Schuld und in Trauer kann ich nicht leben. Ich muss es beenden. Ich werde es beenden. Das ganze 'Spiel' ist mir egal. Ich wollte mit Lisa zusammen überleben, doch jetzt hat das Leben für mich keinen Sinn mehr.
Ich kämpfe mich auf die Füße. Es regnet immernoch, doch ich spüre die Tropfen nicht, als ich die Hütte verlasse. Ich gehe durch den Park, einen Fuß vor den anderen setzend, aus dem Park und die Straße entlang.
Dort, vor mir, liegt sie. Ich kann nicht hinsehen, doch ich bleibe trotzdem kurz stehen und blicke auf ihr durchnässtes Buch. "Es tut mir leid, Lisa, so unendlich leid! Ich konnte mein Versprechen nicht halten, aber ich kann auch nicht ohne dich leben. Bitte verzeih mir!" Ich verweile noch einen Herzschlag lang, dann gehe ich weiter.Die Autobahnbrücke, liegt etwa 15 Minuten vom Park entfernt. Lisa hat den Weg heute Nacht schon in zehn Minuten geschafft, aber ich brauche länger. Meine Glieder sind schwer. Es fühlt sich an, als wäre ich mit nassem Sand gefüllt, aber die Gewissheit treibt mich voran. Ein Sprung und alles ist vorbei! Ich stelle mich auf das Brückengeländer. Unter mir rasen die Autos vorbei. Selbst in den frühen Morgenstunden ist die Straße schon stark befahren.
Die Sonne geht auf. Ihre ersten Srahlen treffen mein Gesicht und ich lasse mich fallen.
Ich werde Lisa und die anderen wiedersehen! Sie warten schon auf mich.
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The Werewolf game
Mystery / Thriller_Sie holen auf. Ich kann schon das Rascheln der Pfoten im Laub hören und bilde mir ein ihren Atem im Nacken zu spüren, da taucht auf einmal ein großer Baum vor mir auf. 'Wölfe können nicht klettern, oder?', frage ich mich selbst, als ich den unters...