06 - Zurückziehen

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Sonntag, 17:11 Uhr

Heute ist grundsätzlich ein schlechter Tag. Das hat Yoongi bereits direkt nach dem Aufstehen für sich entschieden. Beginnen wir mit der Erörterung der Gründe an dem Punkt, dass er heute Morgen verschlafen hat. Dies ist ihm bislang noch nie passiert und in eine dementsprechende kopflose Panik ist er ausgebrochen, als er gegen halb eins die Augen aufgeschlagen hat, nur um zu erkennen, dass er vor einer halben Stunde hätte an der Arbeit sein müssen. Aufgrund dieser Situation sind im Anschluss daran mehrere Dinge schiefgelaufen. Erstens: Sein Frühstück musste aufgrund der akuten Zeitknappheit ausfallen (die Fische hat er aber noch gefüttert). Zweitens: Die kurze Katzenwäsche, die er sich unter der Dusche gegönnt hat, fiel eiskalt aus, weil die Warmwasserversorgung innerhalb des Wohnblockes echt zu wünschen übriglässt (und er hatte nicht genug Zeit, um darauf zu warten, dass das Wasser aus purem Wunschdenken heraus wärmer wird). Drittens: An der Arbeit hat er erfahren, dass die zuständige Kollegin aus der Mensa heute erkrankt ist. Schlussfolgerung davon, Yoongi verkauft gerade breitlächelnd (okay, vielleicht nicht ganz so breitlächelnd. Okay, er hat einen neutralen Gesichtsaufdruck aufgelegt. OKAY, er schaut vielleicht etwas grimmig, ist ja gut) Fastfood und Softdrinks an kreischende Kids. Hallo? Er ist Tierpfleger. Für diesen Kram wird er eindeutig nicht bezahlt. Viertens (und das ist eigentlich das Schlimmste an der ganzen Sache): Er hat heute Morgen sein Handy daheim vergessen.

Er versucht all diese Umstände auszublenden und sich darauf zu konzentrieren, dass gestern Abend echt schön war. Wirklich schön. Alles in allem der schönste Abend seit einer sehr langen Zeit. Deswegen versucht er das Kindergeschrei zu ignorieren, die Kunden höflich zu bedienen und seine guten Manieren dabei nicht zu vergessen. Unnötig zu erwähnen, dass er gedanklich alle Möglichkeiten durchspielt, die Zuhause auf dem Handy auf ihn warten könnten.
Anfangs ist Yoongi noch gut gelaunt, nur halt eben für seine Verhältnisse. Er hält sogar den ein oder anderen Smalltalk mit den Gästen. Sie reden mit ihm ausschließlich über die Bewohner des Sea Lifes und das ist in Ordnung. Damit kennt sich der minthaarige Junge aus. Darüber kann er zwei oder drei kurze Sätze verlieren, ohne dass er sich verhaspelt. Eben hätte er ein junges Mädchen beinah danach gefragt, ob er nach der Arbeit zuerst nach Hause laufen oder zum Starbucks gehen soll. Aber eben nur beinah. Er ist zufrieden mit sich.

Sein Tag läuft solange ganz in Ordnung (und damit hatte er nicht mehr gerechnet, nachdem am Morgen so viel schiefgelaufen ist), bis eine ältere Frau mit zwei kleinen Kindern im Vorschulalter zu ihm an die Kasse tritt. Ganz offensichtlich ist sie die Großmutter der Kleinen.
Es gibt diese gutherzigen alten Menschen, denen das Lächeln nicht mehr aus dem Gesicht weicht, weil es sich über die Jahre hinweg zu sehr in ihre Falten eingegraben hat. Das sind die Menschen, die dankbar den Platz annehmen, wenn man ihnen den eigenen in der Straßenbahn anbietet. Dann lächeln sie ihr faltenreiches, gutherziges Lächeln, wie schon tausende Mal zuvor, und bewerfen einen mit Komplimenten darüber, wie wohlerzogen und charmant man doch ist. Hilft man ihnen über die Straße oder beim Tragen von ihren Einkäufen oder irgendwelchen anderen anfallenden Kleinigkeiten im Alltag, wollen sie einem zwinkernd ein bisschen Geld zustecken oder ein Eis kaufen. Sie haben ein gutes Herz und wollen es in jeder möglichen Sekunde mit den Menschen um sie herum teilen, weil sie nicht wissen, wie viele von diesen Sekunden sie noch haben werden. Sie wollen die Welt als einen besseren Ort verlassen, als sie ihn betreten haben.

Die Großmutter vor ihm mit den beiden kleinen Kindern, die schon auf den ersten Blick aussehen wie verwöhnte Gören, ist leider das Gegenteil von diesen alten Menschen.
Ihre Mundwinkel verlaufen in einem deutlichen Bogen nach unten. Die Falten in diesem Bereich intensivieren den grimmigen Gesichtsausdruck, sodass er wie in Stein gemeißelt wirkt. Unabrückbar, ganz egal, was sie auch damit betrachtet. Selbst vor ihren eigenen Enkelkinder macht der verurteilende Ausdruck keinen Halt und so betrachtet sie ihre Anhängsel mit dunklen Augen und zusammengezogenen Augenbrauen. Als sie sich schließlich gegenseitig anstupsen und über etwas kichern, schnalzt die alte Dame missbilligend mit der Zunge.
Es ist das abwertenste Geräusch, dass Yoongi jemals in seinem Leben gehört hat.
An ihren Fingern sitzen schwere juwelenbeladene Ringe, auf der Kleidung sind dezent die Embleme verschiedener teurer Markenkleidung zu finden. Zwar versteckt, aber immer noch so prominent, dass man nicht drum herum kommt zu bemerken, dass die Frau sich in Luxus kleidet.
Innerlich strafft sich Yoongi die Schultern. Er hat schon viele anstrengende Gäste bedient. Er wird auch diese bedienen können. Er zwingt sich dazu, die eigenen Mundwinkel nach oben zu verziehen und einen möglichst freundlichen Eindruck zu machen, als er die neuen Kunden begrüßt: „Willkommen im Sea Life. Ihre Bestellung bitte?"
Ihr Blick zerquetscht Yoongi wie ein lästiges Insekt.
„Ein Wasser, zwei Cola, zwei Cheeseburger mit Pommes und einen Salat", bellt die alte Frau vor ihm. Es ist keine Bitte, keine Aufforderung, es ist ein Befehlt. Ganz absichtlich wurde auf jegliche Höflichkeitsformen und -floskeln verzichtet. In ihren Augen ist der Angestellte nicht mehr als belastendes Ungeziefer und hat keinen Respekt verdient. Ihre Gestik und Mimik sprechen Bände.
„Natürlich", beeilt sich Yoongi zu sagen und hegt den Wunsch, dass Gespräch so schnell wie möglich hinter sich zu bringen. Er verbeugt sich der alten Dame gegenüber automatisch ein Stück tiefer, als er es üblicherweise tut. Sein Blick bleibt gesenkt, als er die folgende Frage ergänzt: „Haben Sie sonst noch einen Wunsch?"

Unter Wasser hören wir einander mit dem HerzenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt