Der Tag vor dem Traum

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Schnee rieselte auf den Boden und ein eisiger Wind pfiff durch den Wald. Das kleine Mädchen, das noch nicht lange fünfzehn war, ging an einem Weg entlang und summte immerwieder dieses eine Lied, als plötzlich ein Kaninchen ihren Weg durchkreuzte. Sie blieb stehen. ,,Habe keine Angst mein Kaninchen.", redete sie ihm mit einer beruhigenden Stimme ein. Dann machte sie einen Schritt auf das Tier zu, holte ihr Messer heraus und versuchte es zu töten. Doch es war zu schnell und hoppelte davon. Sie fluchte und fühlte wieder die Schwäche in sie hineinsickern. Noch eine Weile ging sie durch den Wald, als sie endlich zur Stadt fand.

Sie tapste noch auf einigen Straßen umher, bis sie zu einem Ort kam, der so hell beleuchtet war, das sie ihre Augen für einen Moment zukneifen musste. Überall waren Leute, die fröhlich singend umherwanderten. Alt und jung. Familien, Kinder, Pärchen. Überall Menschen. Die Kinder tollten herum, aßen Weihnachtsgebäck und zeigten ihren Eltern begeistert Dinge, die sie unbedingt haben wollten. Es war beinahe überfüllt. Die üblichen Weihnachtslieder dröhnten in ihren Ohren. Überall waren Hütten. Manche verkauften Mandeln, manche Zimtkekse, manche heiße Schokolade, manche Glühwein und manche Krippen. Besonders gefiel ihr eine Hütte, dekoriert mit tausenden Lichterketten in allen erdenklichen Farben, von denen jedes einzelne Licht strahlte, als wären es Sterne. Hinter der Theke stand eine Frau mit dem gleichen hochgesteckten Dutt, wie ihn ihre Mutter immer trug. Selbst das verschmitzte Lächeln der Frau erinnerte sie an ihre Mutter. Doch keiner-auch nicht die hübsche Frau hinter der Theke-würde diese strahlenden haselnussbraunen Augen, wie ihre Mutter sie hatte, haben. Keiner. Gerade wollte die hübsche Frau hinter der Theke einem kleinen, begeisterten und hungrigen Mädchen mit schwarzen langen Haaren überreichen, als plötzlich das kleine Mädchen aufprang, sich die Waffel schnappte und das Geld, das das Mädchen auf die Theke legte nahm und rannte. Sie schaute noch einmal zurück in die bedrückten und gleichzeitig überraschten Gesichter des Mädchens und der Frau. Dann schaute sie nach vorne und rannte und rannte und rannte. Doch sie rannte nicht nur, nein. Sie lief vor ihrer Mutter weg und vor dem Mädchen, das sie gerne sein wollte. Das war ihr Statement dazu, sie hatte ihnen zeigen wollen, dass sie es konnte. Sie konnte draußen überleben.

Doch das kleine Mädchen lag falsch. Die hübsche Frau war nicht ihre Mutter und das kleine schwarzhaarige Mädchen war nicht sie selber. Sie hatte es ihnen nicht gezeigt, sie nicht stolz gemacht, denn sie waren nicht sie. Sie waren nur eine hübsche Frau hinter der Theke und ein kleines glückliches schwarzhaariges Mädchen , die sich jetzt beide wohl über das kleine Mädchen ärgerten.

Sie rannte noch immer. Ein schlakhalsiger, dürrer Mann mit einer zu groß geratenen Nase, der sich so breit machte, das man meinte er versuche eine Spagat, versuchte sie aufzuhalten. Sie jedoch schlüpfte unter seine Armen hindurch.

Noch einige schauten sich nach ihr um, kümmerten sich aber nicht weiter um sie. Die kalte Nachtluft zerrte an ihrer Lunge, und obwohl ihr bei jedem Atemzug ihre Lunge zu zerreißen schien und das Stechen in ihrer Brust wie Feuer war und nicht aufzuhören schien, rannte sie.

Ihre Wangen waren schrecklich gerötet vor Anstrengung, als sie schließlich ihr Tempo linderte. Sie röchelte und rang nach Luft. Als sie dann zu ihrer linken ein Schild entdeckte, auf dem auf einmal die Straße stand auf der sie sich befand und eine kleine Gasse. Sie entschied sich durch die kleine Gasse zu gehen, die scheinbar zu einer beleuchteten Straße führte. Die Straße wurde zwar durch helle Straßenlaternen beleuchtet, war aber trotzdem menschenleer. Perfekt, dachte sie.

Dann, als sie dachte sie hätte endgültig Ruhe vor dem ganzen Rummel und den aufgeregten Menschen, die meinten sie müssten ihr ganzes Erspartes in Weihnachtsgeschenken ausgeben, pfiff ihr jemand hinterher. Erst machte sie sich keine Gedanken darüber und schaute weiterhin nach vorne. Doch die Person pfiff nochmal, dann wurde sie neugierig und drehte sich um. Sie blickte direkt in ein Gesicht, das ihr plötzlich unheimlich nahe stand. Wie konnte ich seine Schritte nicht hören?

Das Gesicht war alt, rund, faltig und männlich. Sie stolperte einen Schritt nach hinten und sah nun den ganzen Körper mit seinen unschönen Rundungen und dem dicken Bauch, der unter dem schmutzigen T-Shirt hervorlugte. Er hatte ein abscheuliches Grinsen aufgesetzt. ,,Na, meine Süße?" Noch immer hatte er dieses Grinsen, das das kleine Mädchen ihm am liebsten so fest gehauen hätte, das er so fest hingefallen wäre, das er nicht mehr hätte grinsen können. ,,Weißt du, ich habe ein unheimlich gemütliches Zuhause. Mit kleinen, niedlichen Welpen. Magst du Welpen? Ach ja, ich habe außerdem eine bezaubernde Tochter. Du musst sie kennenlernen, ihr würdet euch sehr gut verstehen. Sie hat dieselben wunderschöne Haare. Wunderschöne Haare..." Er seufzte und grinste dann wieder. Mit der einen Hand tätschelte er plötzlich den Oberarm des kleinen Mädchens mit der anderen ging er ihr durch ihre blonden Haare und pustete ihr eine Strähne nach hinten, die in ihr Gesicht gefallen ist. ,,Lass mich in Ruhe!", schrie sie. ,,Meine Eltern wissen wo ich bin. Außerdem ist mein Vater Polizist. Also lass mich gefälligst in Ruhe, dreckiges Schwein." Als sie die letzten beiden Wörtet aussprach, spuckte sie auf den Boden -direkt vor seine Füße. Erst verschwand sein schäbiges Grinsen, doch dann lachte er wieder. ,,Siehst nicht aus als hättest du besonders fürsorgliche Eltern. Wer lässt denn bitte seine Tochter um diese Zeit in menschenverlassenen Straßen herumspazieren?", erwiderte er, lachte und setzte dann wieder sein wiederliches Grinsen auf.

Das war's für dich, dachte sie, holte zum Tritt aus und trat ihm kräftig in seinen intimen Bereich. Er schrie. Es war nicht genug. Sie holte nochmals aus und trat ihm heftig, dahin wo sie beim vorherigen Tritt hin trat. Er schrie, er fiel und murmelte:,,Verdammte Hure!" Es war nicht genug. Sie holte aus, trat ihm gegen seinen Oberschenkel. Er schrie. Es war nicht genug. Sie trat ihm gegen seinen Bauch. Er schrie. Es war nicht genug. Sie holte aus, trat ihm gegen seinen Kopf. Er schrie nicht mehr. Eine Blutlache bildete sich um seinen Kopf und tauchte den Schnee in ein blutrotes Meer. Sie sah noch kleine Schneeflocken darin tanzen und nahm dann alles von dem alten Mann, das ihr wertvoll erschien und rannte und rannte und rannte. Ihr Leben war ein ewiges Rennen. Wegrennen, davonrennen. Immer und immer wieder. Sie rannte weg und rannte weg. Blieb nie einem Ort. Nie.

Das kleine Mädchen sah den Weg vor sich nicht, denn ihre Augen waren tränengefüllt. Man könnte sich denken, sie hätte sich die Tränen einfach wegwischen können, damit sie den Weg besser sehe. Aber sie wollte es nicht, sie wollte den Weg nicht sehen. Sie wollte nicht diese schreckliche Welt sehen, die so dermaßen vom Bösen erstickt wird. Sie wollte nicht sehen, wie sich das Böse in der guten Welt breitmachte und all den einst so guten Menschen das Böse einredete. Das Böse war die unbesiegbare Macht. Man kann es nicht besiegen, nicht für immer vernichten. Denn es wird immer, ohne Ausnahme, in dem Menschen vorhanden sein. Selbst in den hintersten Ecken. Man kann die Welt nicht in gute und böse Menschen einteilen. Es kommt darauf an, wie gut du das Böse zurückhalten kannst. Wie stark du bist. Ob du zu schwach bist, um das Böse abzuwehren oder stark genug bist, um das Böse hineinzulassen.

Nach einer Weile des Rennens, stoppte sie auf Anhieb, als wäre sie vor eine Wand gelaufen. Sie wollte nicht mehr rennen. Sie wollte stoppen, sie wollte bleiben. Aufhören andauernd wegzurennen. Und so stoppte sie nicht nur körperlich, sie setzte dem Wegrennen einen Punkt.

Ab und zu mal kamen Leute vorbei und schauten sie mit ängstlichen Blicken an. Doch das störte sie nicht, denn sie war es gewohnt. Sie war selten in der Stadt, sie bevorzugte die Wälder. Die Wälder waren viel ruhiger und so voller Magie. Als sie nun eine Weile durch den Schnee stapfte, fand sie eine große Rasenfläche, bedeckt mit unberührtem Schnee. Er glitzerte leicht.

Das wäre ihr Schlafplatz für die Nacht, dachte sie sich und legte sich hin. Dann schaute sie hoch zum sternenbedeckten Himmel. Sie war sich sicher, ihre Eltern waren auf einem dieser Sterne. Irgendwo waren sie auf einem der Sterne und kümmerten sich um ihr Schloss und die Bewohner des Sterns Parim.

Jede Nacht bevor das kleine Mädchen schlafen ging, sang sie den Sternen das Lied der Lichter vor, in dem Wissen ihre Eltern hören ihr zu. Ein Wind pfiff vorbei und flüsterte ihr ein 'Gute Nacht' in ihr Ohr, und als sie das hörte setzte sich ein Schmunzeln auf ihr Gesicht und sie vergaß die ganze Umwelt. Das kleine Mädchen schlief ein.

Lied der LichterWo Geschichten leben. Entdecke jetzt