Da stehe ich nun. Vor der braunen Tür im Mädchenwohnheim des Picston Colleges. Die Mädchen, die mir hier bisher über den Weg liefen sind hatten alle riesige Koffer dabei, die sie bis zum Platzen füllten. Ich hingegen beschränkte mich auf die wichtigsten Sachen aus meinem Kleiderschrank und habe sie in eine große Sporttasche gequetscht.
Ich öffne die Türe und treffe auf ein dunkelblondes Mädchen, das gerade mühselig versucht, das Bett auf der linken Seite zu beziehen.Sie dreht sich zu mir und blickt mich mit ihren braunen Teddyaugen an und lächelt freundlich, dabei bilden sich Grübchen auf ihren Wangen. „Oh hey, du musst Olivia sein! Ich bin Judith. Deine Mitbewohnerin."
„Ich bin Liv. Nicht Olivia. Nenn mich bitte Liv.", stelle ich gleich zu Beginn klar. Es ist mir wichtig nicht Olivia genannt zu werden. Der einzige Mensch, der mich so nennen durfte, war mein Dad. Nach seinem Tod, war jedes Mal, das ich diesen Namen hörte, eine weitere schmerzliche Erinnerung an ihn. Wie er mich durch das ganze Haus zum Essen ruft oder mich immer meine kleine Olive nannte, um mich damit zu ärgern. Er wusste wie sehr ich es hasste so genannt zu werden und tat es trotzdem immer und immer wieder. Und jetzt, neun Jahre später, würde ich noch immer alles dafür geben, diese Worte noch einmal aus seinem Mund hören zu können.
„Okay, Liv. Tut mir leid."
Ich gehe zu dem Bett auf der rechten Seite. Verdammt! Man sollte Bettzeug mitnehmen? Das erklärt vielleicht auch die riesigen Koffer der anderen Mädchen.
„Fuck.", murmle ich wütend über meine eigene Dummheit und die Tatsache, dass ich wieder nach Hause fahren darf, oder einfach ein paar Nächte ohne Kopfkissen und Decke auskommen müsste.„Was ist denn?"
„Ich habe kein Kissen und keine Decke dabei."
„Hmm ich bin gut vorbereitet. Ich habe zwei Laken, zwei Kissen und eine extra Kuscheldecke.". Kuscheldecke? Wie alt ist sie? Acht? „Ich kann dir gerne Abhilfe schaffen."
Hat sie überhaupt Anziehsachen in ihrem Koffer? Allein Kopfkissen und Decke mussten doch unendlich viel Platz wegnehmen. Wo verstaut sie das alles?Ich will ihr Angebot ablehnen, aber meine erste Nacht im College habe ich nicht vor, wie auf einer Pritsche im Knast verbringen, also nehme ich dankend an.
Judith kramt schnell ein Bettlaken, ein Kissen und eine Decke heraus.
„Und?"
Oh nein! Jetzt will sie auch noch ein Gespräch mit mir anfangen.
„Studierst du auch Jura?"Das ist die Law School der Picston University. Natürlich studiere ich Jura!
„Jura? Bin ich hier nicht an der Kosmetikschule?", gebe ich sarkastisch zurück.
Sarkasmus scheint nicht Judiths Ding zu sein. Anders kann ich mir nicht erklären, wieso ihre Stirn in Falten legt und mich nervös ansieht.
„Warn Witz!", kläre ich die Situation auf. „Ja ich studiere Jura."Sie lacht unbeholfen. „Achso, ja klar. Und wieso studierst du Jura? Also ich liebe ja Anwaltsserien und generell alles das mit Verbrechen zu tun hat. Das hat mich schon immer fasziniert." Oh Gott! Wieso redet sie so viel? Und wieso musste mir die Zimmerverwaltung nur so eine Labertasche als Mitbewohnerin zuteilen? Das würde ich im Leben nicht aushalten.
„Ich mag Gerechtigkeit und Action. Ich war auf der Polizeischule, war aber doch nichts für mich.", sage ich knapp. Wenn ich die Polizeischule schon erwähne, wird mir schlecht. Ich wollte unbedingt Polizistin zu werden. Sie nahmen mich mit Kusshand an. Ich hatte exzellente Noten, bestand alle Sporttests ohne Probleme und ich wurde trotz meiner traumatischen Vergangenheit als psychisch stabil eingestuft. Alles war perfekt. Wäre da nicht mein sexuell frustrierter Kollege Pete gewesen, der es einfach nicht ertragen konnte, dass ich ihn abserviert habe und hat mir aus Rache etwas untergejubelt. Irgendwie wurden Spuren von Kokain in meinem Blut gefunden. Kurz nach der Weihnachtsfeier. Komisch nicht?
Kokain. Ich habe noch nie Drogen genommen... Also, illegale Drogen versteht sich. Zu Alkohol pflege ich stets ein gutes Verhältnis.
Ich hatte Glück im Unglück, dass mein Patenonkel gute Verbindungen hat und dafür sorgen konnte, dass diese Sache unter den Tisch fällt. Die Sache wird totgeschwiegen und ich habe die Polizei offiziell freiwillig verlassen.
Das Jurastudium ist jetzt mein Plan B. Hat wenigstens etwas mit Gerechtigkeit zu tun und ich habe immer noch die Chancen diese Wichser, die mein Leben zerstört haben ranzukriegen.„Polizeischule? Das ist ja cool. Dann bist du ja richtig taff."
Ja. Ich glaube das musste man bei meiner Vergangenheit auch sein.
„Und wieso Picston? Also ich wurde an keiner anderen Uni genommen."
Judith beantwortet ihre Frage sofort selbst, als ginge sie davon aus, dass ich mich für sie interessiere. Tu ich aber nicht.„Ich wollte nicht weit weg von Zuhause sein und trotzdem das Studentenleben in vollen Zügen genießen."
„Woher kommst du denn?"
„Philadelphia."
Sie reißt erstaunt die Augen auf. „So richtig aus der Stadt?"
„Nicht aus der Stadtmitte, aber ich hatte keinen weiten Weg da hin."
„Oh man, wie cool. Ich komme aus einer Kleinstadt in Louisiana. Vom Großstadtleben habe ich keine Ahnung."
Kleinstadt? Vermutlich meint sie eher Kuhdorf. Sie sieht aus wie ein Mädchen vom Lande, das auf einem Bauernhof aufgewachsen ist und jeden Morgen von einem krähendem Hahn geweckt wird. Oder ist es das Huhn das kräht? Völlig egal. Sie ist ein typisches Landei. Ob sie schon mal Alkohol getrunken hat? Wahrscheinlich nicht.
Ich beginne mein Bett zu beziehen und genieße die Stille, ohne Judiths Stimme im Ohr. Meine Fahrt nach Picston war die Hölle. Normalerweise könnte man die Strecke in einer Stunde schaffen, doch heute waren die Straßen besonders voll, weswegen ich statt einer Stunde vier gebraucht haben. Meine Laune ist demnach nicht sehr gut, da brauche es keine Mitbewohnerin, die mir versucht innerhalb von 2 Minuten ihre ganze Lebensgeschichte versucht zu erzählen.
„Wie alt bist du?", beendet Judith die heilige Stille. Es war so schön. Wieso muss sie es kaputt machen?„21.", antworte ich.
„Oh wie cool, ich bin erst 19. Ich war das Jahr nach meinem Abschluss in Afrika als Entwicklungshelfer. Deswegen fange ich erst jetzt mit dem Studium an. Aber Jura war schon voll lange mein Traum."
Eine Weltverbesserin. Wieso ist sie nicht direkt in Afrika geblieben? Eine Mitbewohnerin, die nicht so viel redet wäre mir durchaus lieber.
„Was hältst du von Partys?"Partys? Bei dem Wort werde ich natürlich hellhörig. Ich liebe Partys. Alkohol. Jungs. Das ist meine Welt.
„Bin ich ein Fan von."
Judith legt wieder ihre Stirn in Falten. Ich habe das Gefühl ihre Gedanken lesen zu können. ‚Meint sie das ernst oder war das wieder ein Witz?'
„Wirklich.", füge ich noch hinzu.Sie nickt verstehend und lächelt wieder unbeholfen. „Also, heute soll eine Party in einem Verbindungshaus sein. Sollen wir hin?". Sie kratzt sich am Hinterkopf. Würde ich es nicht besser wissen, würde ich denken sie wolle mich nach einem Date fragen.
Ich zucke mit den Schultern. „Klar."
Judith springt auf und klatscht quiekend in die Hände. Autsch. Ihr Quieken bahnt sich seinen Weg durch meinen Hörgang zu meinem Trommelfell, das immer schneller vibriert und kurz davor ist zu explodieren. Ich halte mir genervt stöhnend das Ohr zu und blicke zu ihr. „Stopp! Stopp!"
Judith stoppt ihren euphorischen Gefühlsausbruch und sieht mich irritiert an.
„Wenn wir gut auskommen wollen, musst du das lassen."„Was?"
„Dieses Gequieke. Bitte, tu das nie wieder! Du sprengst fast mein Trommelfell."
„Tut mir leid. Das sagen mir so viele."
Ach, echt? Das wundert mich nicht. Eine Oktave höher und sie hätte mit Fledermäusen kommunizieren können.- Kapitel Ende -
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die kleine olive
Romance‚Kleine Olive' - So hat ihr Dad sie immer genannt. Doch mit ihm ist auch die kleine Olive gestorben und hat aus der lebensfrohen Olivia die hasserfüllte Liv gemacht. Ihre zerrüttete Gefühlswelt glaubt Liv gut unter Kontrolle zu haben, bis sie gezwu...