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Denn vor beinahe drei Wochen fand ich ihn einige Straßen entfernt. Er hatte, wie ich im Nachhinein erfuhr, einen heftigen Schlag von einem Vampir abbekommen. Und so kam es, dass ich ihn, mit einer Platzwunde am Boden liegend, vorfand. Natürlich verarztete ich ihm gleich mit einem Klammerpflaster und brachte ihn zu sich nach Hause. Daraufhin bot er mir seine Hilfe für zukünftige Probleme, auf die ich nun zurückkommen will.
"Ein kleines Mädchen liegt eine Straße weiter. Sie ist bewusstlos und ich möchte sie nicht liegen lassen. Daher wollte ich Sie fragen, ob sie auf sie aufpassen könnten, solange ich weiteren helfe."

"Aber klar doch. Wo ist sie denn?", fragt er sofort hilfsbereit nach. Kein Schock ist in seinen Augen zu erkennen, denn für ihn ist es Alltag, genauso wie für mich. Traurig eigentlich.
Schnell führe ich ihn in die Straße zur Mülltonne und wir entscheiden uns, sie auf sein Sofa zu legen. Ihr Gewicht ist für uns beide relativ gut zu tragen und so kommen wir schnell voran.
Gemeinsam hieven wir sie auf das alte, blasse Sofa, bevor ich mich erleichtert verabschiede: "Vielen Dank."

"Ist doch kein Problem. Wir halten zusammen.", brummt er zurück, dann trete ich mit einem letzten Winken hinaus ins Freie. Oder auch nicht, denn als Freiheit kann man dieses Leben kaum bezeichnen. Sorgfältig gehe ich die nächsten Stunden weiter die Straßen ab. Dabei entdecke ich noch einen verletzten Mann, dem aber einige Pflaster reichen und eine Frau, der ich vorsichtig einen Verband um den leicht blutigen Hals anlege.
Die Sonne hat mittlerweile ihren höchsten Punkt erreicht und so lasse ich mich auf eine Bank am Marktplatz nieder, um erst einmal durchzuschnaufen. Erschöpft nehme ich mein in zerknittertem Papier verpacktes Brot aus dem Beutel heraus und beiße herzhaft hinein.
Der Geschmack der Wurst breitet sich rasch in meinen Mund aus, während ich genüsslich kaue und die Umgebung beobachte. Mittlerweile befindet sich wieder Leben auf den Straßen, Menschen huschen hin und her, schließen Geschäfte ab, gehen ihrer Arbeit nach, kaufen Lebensmitteln oder treffen Freunde, um sich kurz auszutauschen.

Ganz in meiner Nähe steht eine größere Gruppe und unterhält sich angeregt. Ich blicke in viele verzweifelte Gesichter und beobachte sie kauend. Wahrscheinlich vermissen sie jemanden. Ich sollte also schnell weiter meiner Arbeit nachgehen und hoffen, dass ich die Person noch retten kann. Gehetzt nehme ich noch einen letzten Bissen, bevor ich das Brot wegpacke, mir den Beutel auf schultere und mit langen Schritten auf die Gruppe zugehe. Ich glaube einige von ihnen schon einmal gesehen, vielleicht auch geholfen, zu haben, aber ich bin mir nicht sicher. In unserer Kleinstadt leben bestimmt um die zehntausend Menschen, die kann ich unmöglich alle im Gedächtnis behalten.

Aber wie es scheint, kennen sie mich, denn als ich nur noch einige Schritte von ihnen entfernt bin, werde ich von einer verweinten Frau entdeckt. "Oh Juna, ... da bist du ja! Wir brauchen unbedingt ... deine Hilfe unsere klei...", fängt sie an zu schluchzen, unterbricht sich dabei aber immer wieder selbst. Ihre Verzweiflung schnürt mir beinahe die Kehle zu, auch wenn ich mir äußerlich mal wieder nichts anmerken lasse. Ein relativ kleiner Mann kommt auf die Frau zu und nimmt diese von hinten in den Arm, aber auch seine Augen sind gerötet.

"Wir suchen unsere kleine Tochter, ... hast du sie zufällig gefunden?", dröhnt seine tiefe Stimme zu mir herüber.
Die Augen aller Umstehenden richten sich hoffnungsvoll auf mich, während ich das Paar vor mir betrachte. Sofort denke ich an das Mädchen von heute Morgen, aber ich will ihnen keine falschen Hoffnungen machen. Daher frage ich mit einem freundlichen Lächeln nach: "Wie sieht denn ihre Tochter aus?"

"Sie ist neun ... fast zehn", beginnt die Frau zu reden. Ich sehe den Kampfgeist in ihren Augen aufblitzen, den alle hier Lebenden besitzen. Ich erkenne, dass sie auch etwas zu der Suche beitragen will, weshalb sie sich zusammenreist und weiterspricht: "Sie hat blonde Haare, die ihr bis zum Schlüsselbein reichen. Außerdem trägt sie gerne Kleider, ... woran man sie leicht erkennt. Ihre Augen sind grün ... und sie hat einen Leberfleck am Hals."

Angestrengt erinnere ich mich an das Mädchen zurück. Sie hatte definitiv blonde Haare und ein Kleid an. Aber ob sie grüne Augen und einen Leberfleck hatte, weiß ich nicht. Doch trotzdem bin ich mir ziemlich sicher, dass es das verletzte Mädchen von heute Morgen war, denn Kleider sieht man wirklich selten. Zu groß ist die Angst davor, dass man dadurch einen Vampir anlockt.
"Ich denke, ich habe ihre Tochter heute Morgen verarztet, da das Mädchen auf ihre Beschreibung zutrifft. Aber ich kann es nicht versprechen", bringe ich meine Worte mit einem zaghaften Lächeln im Gesicht heraus.

Sofort weiten sich die Augen der Eltern und der Mann fragt aufgeregt nach: "Wirklich? Wo ist sie? Wie geht es ihr?"
"Wie gesagt, ich bin mir nicht sicher. Aber das Mädchen hatte eine größere Verletzung am Arm und viel Blut verloren, weshalb sie nicht bei Bewusstsein war. Ansonsten geht es ihr aber gut."
Möglichst einfühlsam versuche ich es dem Paar beizubringen, aber im Hinterkopf habe ich immer noch die Warnung, dass es auch ein anderes Mädchen sein kann.
Falsche Hoffnung zu erwecken, ist das Schlimmste, was man tun kann. Denn sie zieht dich hoch, sodass du danach noch viel tiefer in den Abgrund fällst.

"Ich werde Sie am besten Mal zu ihr führen, damit wir alle Zweifel beseitigen", füge ich deshalb noch an und drehe mich um, um voranzugehen. Die Gruppe von zehn Leuten folgt mir hoffnungsvoll, während wir durch die dunklen Straßen gehen und Angst sich in mir breit macht. Was, wenn es doch nicht das Mädchen ist? Ihre Eltern würden emotional zusammenbrechen...

Zügig gehe ich weiter und lasse mir nichts anmerken, während ich den Weg zu dem Haus des alten Herrn einschlage. Stumm geht mir die Gruppe nach, bis ich schließlich vor der richtigen Haustüre stehen bleibe und mich umdrehe: "Hier sollte das Mädchen sein."
Kritisch beäugt mich der Vater: "Wieso ist sie in einem fremden Haus? Ich dachte, ihr lasst die Verletzten auf der Straße?"

Wieso kann er nicht einfach dankbar sein und keine Fragen stellen? Klar, er macht sich Sorgen um seine Tochter, aber was soll ich denn darauf antworten? Meine Gefühle gebe ich vor niemanden Preis, denn wenn ich jetzt von Mitleid rede, macht mich das schwach.
Wer weiß, vielleicht ist er auch einer der Spione, der mit den Vampiren zusammenarbeitet. Einige tun das tatsächlich, da sie die Vampire wegen ihrer Kraft verehren. Sie spionieren uns Menschen für die Blutsauger aus und holen die Schwachen von uns. Es kursieren Gerüchte darum, dass sie zu Sklaven erzogen werden, da sie sich leicht beugen. Ja, auch solche hinterhältigen Menschen gibt es anscheinend immer noch.

Aber das passiert mir nicht! Entschlossen antworte ich ihm: "Sollte ich sie nächstes Mal auf der Straße liegen lassen?"
"Nein...es tut mir leid", gibt er sich sofort geschlagen. Und mal wieder geht eine der gelernten Strategien auf: Gegenfragen stoppen Fragen.

"Okay. Ich würde vorschlagen, dass ich klopfe und sie beide mit mir reingehen, während die anderen warten."
"Ist in Ordnung.", stimmt mir die Mutter aufgeregt zu, dann klopfe ich dreimal gegen die dunkle Tür und warte, bis sie sich öffnet.

𝐉𝐔𝐍𝐀 ❲⊘❳Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt