Regel Nr. 6: Sei so paradox wie dein Umfeld!

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Felix fällt gerade in ein Loch. In ein schwarzes, tiefes, modriges Loch. Gleichzeitig dreht sich alles um ihn und verschwimmt. Seine Hände zittern leicht und sein Gesicht brennt. Als wäre er wochenlang durch die Wüste gewandert, trocknet innerhalb von Millisekunden sein Hals aus, sodass er zuerst nicht sprechen kann.

Changbin sieht ihn mittlerweile fast hilflos an und hat sorgenvoll die Stirn gerunzelt. Seine Unterlippe ist unter seiner oberen Zahnreihe eingeklemmt. Mehrmals reibt er die Handflächen aneinander und wippt etwas vor und zurück, auf Felix Antwort wartend.

Richtig. Antworten.

Felix muss antworten.

Was soll er antworten?

Sofort drückt die Steuerungszentrale in Felixs Oberstübchen den ,,Full-Panic-Mode"-Button und sorgt für einen kompletten Stromausfall. Er steht nur da und sieht Changbin fassungslos an, unfähig, auch nur irgendeine Reaktion von sich zu geben. Nicht einmal an seinem Gesicht kann man sehen, was in seinem Inneren vor sich geht.


,,Felix?", fragt Changbin nach.

Und dann kommt es.

Felix lacht. Laut und voller Sarkasmus. Er hält sich den Bauch, weil der anfängt, wehzutun. Daraufhin wischt er sich eine Träne aus dem Augenwinkel und schüttelt den Kopf, kann nicht aufhören, wie ein Wahnsinniger zu lachen.

Changbin tritt einen Schritt zurück und scannt seinen Gegenüber, unsicher, was nun geschehen wird.

,,Oh. Mein. Gott", sagt Felix endlich, ,,Ganz ehrlich. Hältst du mich für so bescheuert ?" Das letzte Wort betont er mit einem derartigen Ekel, sodass es Gänsehaut auf Changbins Armen erzeugt.

,,Ich verstehe nicht ...", gibt Changbin perplex von sich.

,,Klar verstehst du!", bellt Felix ihn an, ,, Als Nerd bin ich dir zu uninteressant gewesen und jetzt, wo mich alle total toll finden, kommst du angekrochen!"

Nun versteht Changbin, wo das Problem liegt, woraufhin er heftig den Kopf schüttelt. ,,Felix, ich mag dich seit letztem Jahr, ich schwöre! I-Ich mag dich mit all dem Computerkram und den Videospielen, deiner Brille u-"

,,Dass ich nicht lache. Lügen willst du auch noch", unterbricht Felix ihn, ,,Du bist so erbärmlich. Du bist genauso erbärmlich wie der Rest dieser Schule." Er reibt sich mit Zeigefinger und Daumen das Nasenbein. Es gibt keinerlei Beweise für Changbins Worte, daher kann er ihm nicht glauben (auch wenn er es tief in sich, irgendwo doch tun will). ,,Und ich Vollidiot war in dich verliebt." Schwer seufzt er.

,,Felix, bitte ..." Changbins Stimme bricht leicht, aber das beachtet Felix überhaupt nicht.

,,Halt dich von mir fern, kapiert?", murrt er und dreht sich weg, bevor er ohne den anderen vom Schulhof geht.





,,Was?! Und du hast ihn einfach gekorbt?!" Jisung dreht sich auf seinem Schreibtischstuhl zu Felix.

Die beiden sitzen bei Jisung zu Hause und pauken gemeinsam für die anstehende Biologie-Arbeit, aber irgendwie sind sie auf das Thema Changbin gekommen. Keine Überraschung, Jisung hat sich immerhin gewundert, wieso Felix nicht auf ihn nach dem Sportunterricht draußen gewartet hat, deswegen hat er nachbohren müssen.

,,Ji", seufzt Felix, der auf dem Bett liegt und derweil in seinem Biologieheft liest.

,,Stopp, stopp, jetzt ,Ji' mich bloß nicht an!", meint Jisung und gerät in Rage, ,,Du bist seit einem Jahr in diesen Kerl verliebt, bist mit Einhörnern über die Liebeswolken galoppiert und am wichtigsten Tag deines Teenagerlebens, korbst du den  Seo Changbin?!"

Felix lässt das Heft auf sein Gesicht fallen und atmet laut aus. Natürlich darf er sich eine Standpauke von Jisung anhören. Der hat lange genug sein verknalltes Geschwafel über Changbin ertragen müssen und erwartet wahrscheinlich eine Art Schadensersatz.

,,Ich habe es dir doch schon erklärt. Changbin mag mich plötzlich, weil ich anders aussehe. Deswegen hat er versucht, auf mein vorheriges Geständnis einzugehen. Aber das ist längst verjährt", erklärt Felix geduldig und dreht sich auf den Bauch, um Jisung ansehen zu können.

,,Verjährt?! Das ist ein paar Wochen her!"

Felix rollt mit den Augen. ,,Vom Prinzip her stimmt es trotzdem." Er blättert im Heft und stützt das Kinn auf seinem Handballen. ,,Kannst du jetzt bitte aufhören, mich anzuschreien?"

Jisung lässt sich zurück in seinen Stuhl fallen. ,,Ich glaube nur nicht, dass Changbin zur oberflächlichen Sorte gehört."

,,Und das weißt du sicher? Ich meine, du produzierst mit ihm Musik und hast trotzdem keine Ahnung, ob er was für mich empfindet, empfunden hat ... ach, du weißt schon." Felix winkt ab und widmet sich wieder dem Lernstoff.

Eigentlich will er gar nicht darüber reden. Zwar hat er gesagt, dass er in Changbin verliebt gewesen  sei, aber so einfach kann man Gefühle nicht abstellen. Trotzdem werden diese ausreichend von seinem Zorn und seiner Bitterkeit überschattet, daher kann er alles andere relativ gut ignorieren.

,,Changbin redet halt nie über so etwas. Er drückt es lieber mit Musik aus."

,,Ich habe ihn gefragt, ob er bei Liebesliedern an mich denkt und er war richtig irritiert. Niemals stimmt das, was er gesagt hat." Felix pustet sich eine Strähne aus dem Gesicht und schreibt die ersten Notizen auf seinen Block. ,,Niemand findet ,Nerds' oder ,Streber' oder ,Freaks' attraktiv. Nicht an dieser Schule."

,,Ich finde dich attraktiv", meint Jisung prompt.

,,Jeder findet mich mittlerweile attraktiv."

,,Ja, sogar Sungjin."

Felix knallt das Gesicht auf die Matratze und gibt einen frustrierten Laut von sich. ,,Nicht du auch noch", gibt er entnervt von sich.

Jisung lacht daraufhin. ,,Sorry. Ich kriege nur langsam echt Mitleid, weil er immer nach deiner Aufmerksamkeit lechzt."

,,Ja, weil er es vermisst, mich zu schikanieren", kommt es gedämpft zurück.

Momentan läuft wirklich alles drunter und drüber. Felix weiß wirklich nicht, wie er es noch länger aushalten soll. Zwar sind die Schultage erträglicher und eigentlich ganz lustig, weil er nicht mehr gehänselt wird, aber gleichzeitig kommen so viele neue Herausforderungen auf ihn zu; welche, auf die er liebend gern verzichten würde.

,,Toll, und ich dachte, mein Leben wird einfacher, wenn ich mich ändere", murrt Felix und knirscht mit den Zähnen.

Daraufhin klopft es an der Tür, die in der nächsten Sekunde von Jisungs großer Bruder geöffnet wird. ,,Jisung, hast du meinen Nintendo DS kaputt gemacht?"

Jisung stöhnt etwas genervt auf. ,,Ich habe deinen Nintendo nicht einmal benutzt. Wie soll ich ihn da kaputt gemacht haben?"

Sein Bruder schaut auf und will anfangen zu diskutieren, als er überrascht zu Felix sieht. ,,Oh, wen hast du denn zu Be-" Seine Augen wachsen zur Größe von Melonen an. ,,Das gibt's ja nicht. Felix?!"

,,Wie ich lebe und leide", erwidert der ein wenig trocken.

,,Was ist denn mit dir passiert?", fragt Jisungs Bruder geschockt und mustert ihn ausgiebig, ,,Ist das ein Nike-Pulli? Seit wann trägst du denn Marken?" Er scheint sichtlich interessiert zu sein und will auf Felix zugehen. Er ist selbst begeistert von Markenklamotten und sammelt sie mehr oder weniger als Hobby.

Weit kommt er nicht, weil Jisung ihn an der Brust zurück drängt. ,,Yeong-hyeon, wir lernen gerade und du störst! Also verzieh' dich." Er wirft ihn raus und verschließt die Tür. ,,Meine Fresse", seufzt er.

,,Das kannst du laut sagen", meint Felix nur und konzentriert sich wieder auf seine Notizen.





Über die nächsten Tage geht Changbin stark auf Abstand, aber nicht stark genug, als dass es von ihren Freunden bemerkt wird. Immerhin ist es innerhalb ihrer Gruppe immer so bunt und laut, dass das kaum auffällt.

Sie sitzen in der großen Pause draußen, dieses Mal aber auf der Bank und nicht wie gewohnt an ihrem Stammtisch, weil dort die Sonne wunderbar scheint und sie jeden Strahl abfangen möchten.

Ein paar Jungs spielen Fußball und manche Mädchen hüpfen hinten mit Springseilen oder in die selbst aufgemalten Hickelkästen, Ältere wiederum schminken sich gegenseitig. Es gibt auch gemischte Gruppen, die Ping-Pong spielen oder einfach nur zusammen stehen und cool aussehen wollen.

Felix unterhält sich gerade mit Chan, als ihm ein Ball vor die Füße rollt. Er schaut auf diesen hinab, ehe sich eine Person hin kniet und diesen aufheben will.

Es ist Sungjin, der aus der Hocke zu ihm aufblickt und anfängt, zu strahlen.

Felix blinzelt nur und sieht ihn mit neutralem Ausdruck an.

,,Sorry", entschuldigt Sungjin sich.

,,Macht nichts", erwidert Felix und will sich eigentlich wieder zu Chan drehen, merkt aber, dass Sungjin nicht weg geht. Er schaut wieder zu ihm und hebt die Augenbraue an. ,,Sonst noch was?"

,,Ich wollte fragen, ob du Lust hast, mit uns Fußball zu spielen."

Sofort brennen sämtliche Blicke seiner Freunde auf Felix, aber er beachtet diese gar nicht. ,,Ich mag kein Fußball. Es ist langweilig. Aber das passt ja ganz gut zu dir."

Das bringt Sungjin nur zum Lachen. Wieso zum Lachen? Felix will überkochen vor Wut. Er will gemein zu ihm sein, doch scheinbar prallt das alles ab. So ein verdammter Mist.

,,Hab' ich mir schon fast gedacht. Naja, man sieht sich."

,,Jep, leider."

Erneut lacht Sungjin.

Felix versteht wirklich nicht, was so lustig sein soll, daher ist er froh, dass der andere wieder abhaut. Dann merkt er jedoch, dass Changbins Augen wachsam auf ihm ruhen, weshalb ihm die Verlegenheit deutlich im Nacken kribbelt.

Irgendwo wünscht er sich, dass Changbin eifersüchtig ist, weil es eine derartige Genugtuung wäre. Aber Felix sollte ohnehin aufhören, sich mit ihm herumzuschlagen.

,,Sagt mal, liegt es an mir oder hat sich Sungjin ziemlich verändert?", wirft Hyunjin in die Runde.

,,Es liegt an dir", meint Felix, ,,Er ist noch immer ein großkotziger Ekel mit einem aufgeplusterten Ego. Manche Dinge ändern sich einfach nicht."

,,Doch, finde ich schon. Er wirkt ... nett."

Felix macht ein Würgegeräusch nach und klappt seine Dose laut zu, bevor er aufsteht. Die Situation nervt ihn gewaltig, weil sich plötzlich alles anders entwickelt, als er sich es vorgestellt hat. Das Kind in ihm will aufstampfen und sich lauthals beschweren, allerdings bringt kein Protest dieser Welt etwas.

Mit dem Klingeln betritt er das Schulhaus und geht auf die Toilette. Derweil fragt er sich nach wie vor, was diese Nummer von Sungjin soll. Zwar hat Felix keine Ahnung, was der Ältere beabsichtigt, aber er traut ihm keinen Millimeter über den Weg.

Schnaubend steht Felix vor dem Spiegel und betrachtet sein Puppengesicht. Er merkt, dass sich der Lipgloss abgelöst hat, weswegen er diesen aus der Jackentasche zieht und neu aufträgt.

Seine Mutter hat ihm mittlerweile mehr Schminke ,,vermacht", Schminke, die sie nicht (mehr) benutzt. Neben Lipgloss hat sie ihm Eyeliner und sogar Lippenstift geschenkt, aber bisher hat sich Felix nicht getraut, tatsächlich Gebrauch davon zu machen, da er einfach nicht weiß, wo die Grenzen hier sind. Zumal er es dezent lieber mag.

Bisher kann er den Status als ,,plötzlich populär" noch gut halten, ohne allzu überfordert zu sein, aber er lebt in konstanter Sorge, sofort wieder auf dem Abstieg zu sein. Weiter oben auf der Nahrungskette zu stehen, bietet ihm Schutz und zugleich fühlt es sich an, als könnte man ihm in jedem Moment den Boden unter den Füßen weg ziehen.

Die Tür hinter ihm öffnet sich und ein paar ältere Jungs kommen herein, bleiben allerdings stehen, als sie sehen, was Felix da macht.

Der schaut sie durch den Spiegel hinweg ebenso an und hebt die Augenbraue. ,,Ist was?", meint er ein wenig genervt, weil er es nicht mag, wie man ihn anglotzt. Ihm ist bewusst, dass es irritierend wirkt, was er da tut, aber gleichzeitig ist es ihm irgendwie doch egal.

Es ist ein reines Paradoxon, wie er auf die Meinungen anderer achtet, sich allerdings letzten Endes überhaupt nicht für diese interessiert.

Er schraubt den Lipgloss zu und lässt ihn zurück in die Jackentasche gleiten, während er die Lippen aufeinander reibt.

Schlussendlich verlässt er die Toiletten und bildet sich gleichzeitig ein, den Kommentar ,,Wie kann man so süß sein?", zu hören.

Ein wenig lacht er in sich hinein bei der Vorstellung, dass die Jungs vielleicht im ersten Moment gedacht haben, ein Mädchen hätte sich auf ihre Toiletten verirrt.

,,Da bist du ja", empfängt Jisung ihn und geht mit ihm ins Klassenzimmer.

,,Ich wurde nur gerade auf der Toilette halb gestalkt." Felix setzt sich hin und packt sein Mathebuch aus.

Jisung setzt sich auf den Tisch und schmunzelt. ,,Genießt du es, so angesehen zu werden?"

,,Ein bisschen", antwortet Felix ehrlich und zwinkert ihm zu, ,,Auch wenn ich nicht wirklich hier jemanden ansprechend finde."

Gespielt verletzt hält Jisung sich die Brust. ,,Was? Aber bin ich nicht auch total sexy und attraktiv?"

Felix muss lachen und schüttelt bloß den Kopf. ,,Jisung, du weißt, wie seltsam das wäre, wenn wir was miteinander hätten."

,,Ewww, ja, das wäre so, als würde ich meinen kleinen Bruder ficken."

Daraufhin haut Felix ihn mit seinem Buch. ,,Ich bin einen Tag jünger als du!"

Sie beachten die Leute um sich gar nicht. Früher haben die ihnen kaum Aufmerksamkeit geschenkt, aber nun hat Felix das Gefühl, ständig unter Beobachtung zu stehen.

Das Leben als beliebter Schüler ist jedenfalls kein Zuckerschlecken und das wird sich wohl auch noch in naher Zukunft zeigen.


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