Lebendkontrolle und zwei Scheiben Brot

597 51 31
                                    

Als es laut gegen die Tür hämmert, entfährt mir ein leises Stöhnen.

"Guten Morgen, aufstehen!", schallt es zu mir durch, während draußen das Rasseln der Schlüssel ertönt. Gut zu wissen, es ist also bereits kurz vor sechs.

Den ersten Weckruf über Lautsprecher muss ich überschlafen haben, nachdem ich mir gegen zwei nochmal mein Abendessen habe durch den Kopf gehen lassen. Danach hatte ich zwar ein paar Minuten das Gefühl, dieser Typ aus Alien zu sein, dem ein Baby-Monster von innen den Bauch zerfetzt, aber irgendwann ist es dann besser geworden. Eingeschlafen bin ich allerdings vor gefühlten zehn Sekunden. Jetzt kämpfe ich gegen das fahle Sonnenlicht, das durch die Gitterstäbe in meine Zelle scheint. Es ist deutlich heller als das letzte Mal, als ich mich umgesehen habe, doch trotz der weißen Wände erscheint mir alles vorwiegend grau und trist. Es fühlt sich noch genauso dunkel wie in der Nacht an.

Ich habe mich inzwischen in die Senkrechte gekämpft, fühle mich aber so, wie ich vermutlich aussehe. Wie ausgekotzt.

In dem Moment geht auch schon die Tür auf. Herein schaut eine Beamtin, die ungefähr mein Alter haben müsste. Mein Alter, aber in der deutlich besseren Position. Auch schon bevor ich einsitzen musste. Kurzgeschorene braune Haare, kein Lächeln auf den Lippen. Sie nickt mir zu. "Morgen, Lebendkontrolle. Wie geht's?" Eine Frage, die sie stellen muss, aber sie erweckt dabei wenigstens den Eindruck, als würde sie die Antwort interessieren. Das ist hier keine Selbstverständlichkeit.

Ich nicke. "Schlecht geschlafen", murmle ich, denn ein 'Klar, alles easy' hätte sie mir so oder so nicht abgenommen. Lebendkontrolle heißt übrigens genau das, wonach es klingt. Die Schließer schauen, ob wir alle noch leben. Jeden Morgen. Vor sechs Uhr. So viel dazu, dass Knast voll chillig wäre.

"Gewöhnt man sich dran", sagt die Justizbeamtin, woraufhin tatsächlich ein Lächeln über ihr Gesicht huscht. "Wäsche?"

Schlafwandlerisch tapse ich zu meinem Schrank. Viele Sachen habe ich nicht dabei, aber genug zum Anziehen für sieben Tage. Dreckwäsche habe ich am Morgen abzugeben und nein, ich habe keine Wahl, nochmal den Kram von gestern anzuziehen. Hier drin hat man nur sehr selten überhaupt eine Wahl. Ich greife nach dem orangefarbenen Netz, das in der Innenseite des linken Schranks hängt und reiche es der Wärterin nach draußen.

Sie mustert mich noch einmal, während sie die Fracht entgegennimmt. "Frühstück kommt gleich." Mit diesen Worten schließt sie meine Zelle wieder zu.

Ich atme einmal tief durch. Nach Essen ist mir zwar nicht zumute, aber immerhin habe ich die Nacht überstanden. Im Vergleich dazu geht es mir auch wieder deutlich besser. Körperlich zumindest. Meine Gedanken kreisen noch immer wie verrückt, auch während ich mich anziehe - weißes T-Shirt und Jeans - und mein Gesicht mit kaltem Wasser wasche. Job, Wohnung, mein Freund René, mein Ex-Freund René ... Zum Waschen habe ich ein kleines Waschbecken bei mir im Raum. Ein sehr kleines Waschbecken, aber dafür reicht es. Das vertreibt immerhin die Müdigkeit aus meinen Augen, wenn auch nicht aus meinen Gliedern.

In der Nacht hatte ich mehrfach überlegt, mich wegen der Schmerzen zu melden, aber der Flur ist hellhörig. Stahl und Beton, aber wenn du gegen die Tür hämmerst, hört es der ganze Trackt. In der Nacht hätte jeder selbst ein geflüstertes Gespräch mitbekommen, obwohl sie vermutlich kein Wort verstanden hätten. Trotzdem hätte jeder gewusst, dass ich nachts die Beamten gerufen habe und mir graut es ehrlich gesagt davor, hier die Memme zu geben. Auch, weil ich beim Einzug bereits Bekanntschaft mit dem medizinischen Personal gemacht habe und ich den Eindruck hatte, die halten mich sowieso für eine labile Drogenabhängige. Dabei ist mein letzter Haschkeks über zehn Jahre her. Mussten sie nach dem Drogentest dann auch einsehen. Aber das ist jetzt ohnehin egal, denn was auch immer es war, das mich so gequält hat, es hat sich verzogen.

Ich schaue in den Spiegel und ziehe die Augenbrauen hoch. Ich seh aus wie der Tod auf Urlaub. Selbst wenn ich mehr könnte als Lidstriche ziehen, Lidschatten auftragen und MakeUp mitgenommen hätte, wäre das nicht mehr zu retten gewesen. Die blonden Haare, die mir bis in Stirn und Nacken fallen, glänzen schon ein wenig. Vorm Duschen drücken könnte doch ziemlich hart werden. Derzeit habe ich aber das Glück, dass meine Augenringe auf der blassen Haut so gut herausstechen, dass sie davon ganz gut ablenken.

Es klopft erneut an der Zelle. Das Frühstück. Großartig, denke ich resigniert, seufze noch einmal und murmle leise "Herein", obwohl die Schlüssel sich schon längst im Schloss drehen.

Frau Merzan, die Schließerin, die mich bereits geweckt hatte, bringt mir ein Tablett, auf dem dieselben Leckereien wie gestern präsentiert werden. Der Tisch, auf dem sie es abstellt, ist quasi der Blickfang gegenüber von meinem Bett.

Zwei Scheiben Brot, Wurst, Käse, Marmelade, Butter und Frischkäse. Dazu ein Glas mit Wasser und ein sehr, sehr stumpfes Messer. Es heißt, die Langzeitinsassen kriegen vernünftiges Besteck, aber uns Kurzurlauber kann man nicht gut genug einschätzen. Daher müssen wir auch solche Dinge wie Gürtel oder Tücher beim Einzug abgeben. Da macht dann plötzlich der Begriff Lebendkontrolle echt Sinn.

"Guten Hunger", wünscht mir die Aufseherin und verschließt erneut meine Zelle. Vielleicht werde ich einmal von den Schließgeräuschen träumen. Sie verfolgen einen hier wirklich auf Schritt und Tritt.

Lustlos starre ich auf das Essen vor mir. Mir ist echt nicht danach zumute. Vor allem, weil ich keine Lust auf dasselbe Drama wie in der Nacht habe. Genauso wenig Lust habe ich aber auf Fragen, wenn ich das Tablett so zurückgebe, wie ich es bekommen habe. Zähneknirschend greife ich zum Glas Wasser. Selbst das kriege ich kaum runter. Zu faul, um mich zum Fenster umzudrehen, starre ich auf die kleine Waschecke mit dem Waschbecken. Hinter der halbhohen Wand daneben ist das Klo. Minimalistische Einrichtung bekommt hier eine ganz neue Dimension, doch da fällt mein Blick auf den Papiereimer. Im nächsten Moment verwerfe ich die Idee. Wenn ich raus zur Arbeit gehe, wird meine Zelle durchsucht. Das würde bloß noch mehr Fragen aufwerfen.

Ich fahre mir mit den Händen durchs Gesicht und durch die fettigen Haare. Mein Entschluss steht fest. Ich gebe das Tablett so zurück. Schließlich kann ich schlecht die einzige sein, der dieser Scheiß hier auf den Magen schlägt! Außerdem war ich nie ein großer Frühstücker.

7 Tage AbwärtsWo Geschichten leben. Entdecke jetzt