Kapitel 6

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Wir sitzen schweigend vor dem Feuer. Ich lehne im Schneidersitz an dem alten Sofa und habe die Augen geschlossen. Meine Hand liegt immernoch in Athens. Es ist ein schönes Gefühl, das mich durchdringt. Die ganze Anspannung ist von mir abgefallen und ich entspanne mich in seiner Gegenwart. Irgendwie vertrau ich Athen. Ob das ein Fehler ist, weiß ich nicht, aber ich tue es einfach.

Ich öffne die Augen und bemerke wie Athen mich anschaut. Draußen ist es mittlerweile dunkel und der Schneesturm lässt langsam nach. Das Licht des Feuers erleuchtet Athens Gesicht in warmen Tönen. Ich ziehe meine Hand aus seiner und lege sie in meinen Schoß.

"Was willst du wissen?", frage ich ihn lächelnd. Er lacht kurz auf und schaut ins Feuer.

"Du bist ein Hunter, das weiß ich. Also erzähl mir einfach irgendwas.", sagt er nur lächelnd.

Ich überlege kurz. Viel zu erzählen gibt es nicht, ich erinnere mich ja an über die Hälfte meines Lebens nicht mehr.

"Meine Eltern sind damals gestorben. Ich habe keine leiblichen Geschwister, nur meine zwei Ziehbrüder quasi. Die Hunter haben mich damals gefunden. Seit dem tue ich wahrscheinlich nichts anderes als du auch.", sage ich schließlich und schaue ihn wieder an. Seine Augen leuchten in dem Licht und ich habe das Gefühl ich kann ihm in die Seele schauen. Doch es funkelt auch etwas anderes darin auf, was ich nicht deuten kann.

Athen lächelt.
"Es gibt mehr über dich zu erzählen, da bin ich mir sicher."

"Ich weiß nicht. Ich jage für die Hunter, erkunde, beschaffe Nahrung. Mein ganzes Leben ist dem Überleben gewidmet, da gibt es nicht viel Platz für anderes."

Ich blicke verlegen auf meine Hände. Es gibt wirklich nicht viel zu erzählen. Die letzten Jahre, Wochen, Tage waren immer gleich.

"Was ist deine Lieblingsfarbe?", fragt Athen plötzlich. Ich schaue ihn erschrocken an. Das hat mich noch nie jemand gefragt. Seine Lippen umspielt ein verschmitztes Lächeln.

"Blau.", sage ich nach ein paar Sekunden leise und lächle schwach.

"Wieso?"

Ich überlege kurz.
"Der Himmel ist blau. Das Meer ist blau. Alles Dinge die unendlich zu sein scheinen. Es gibt mir ein Gefühl von Freiheit, wenn ich die Wolken beobachte."

Athen lächelt breiter.

"Das ist wirklich schön, Anny."
Er lächelt und macht eine kurze Pause bevor er weiterspricht.
"Wir leben in einer Welt, in der es keine Gesetze, Regeln oder Pflichten gibt. Man sollte meinen, wir sind überall frei. Aber ich fühl mich nirgendwo frei, außer am Meer. Manchmal wünschte ich mir, ich könnte einfach schwimmen, so weit ich kann und müsste nie mehr zurück."

Ich denke über seine Worte nach. Er hat Recht. Wir sind nicht frei. Wir sind gefangen im Krieg. Es ist schön zu wissen, dass er das selbe fühlt. Mit Nataniel und Shawn rede ich nie über sowas.

"Was ist denn deine Lieblingsfarbe?", frage ich schließlich und stubse ihn lächelnd an, weil ich die Stimmung ein bisschen aufheitern will. Es fällt schwer die Realität hinter sich zu lassen und einfach unbeschwert zu sein.

"Grün.", sagt er und schaut mich wieder an. Ich hebe die linke Augenbraue und er fährt fort.
"Wie der Wald, das saftige Gras im Sommer. Das Leben."

Ich lächel ihn an und er rückt einen Stück näher zu mir. Unsere Schulter berühren sich und mein rechtes Knie liegt auf seinen ausgestreckten Beinen. Er legt seine Hand darauf und streicht langsam mit seinen Daumen auf und ab.

"Okay nächste Frage. Wenn du einen Tag leben könntest, an dem die Welt noch nicht kaputt war, was würdest du machen?", fragt er weiter.

"Ich weiß nicht. Wahrscheinlich durch die Straßen laufen und es genießen, dass die Häuser ganz sind, dass Kinder spielen und ich mir keine Sorgen ums Überleben machen muss.", antworte ich nur. Ich will mir über sowas keine Gedanken machen, um ehrlich zu sein. Das ist Wunschdenken und nicht real und bringt mich dehalb auch nicht weiter. Weil es eben nie wieder so sein wird wie früher.

Über sowas will ich nicht reden und deshalb schau ich Athen nicht mehr an. Es macht mich traurig über so etwas nachzudenken. Er soll nicht sehen, dass mich das nicht kalt lässt. Ich wünsche mir nichts sehnlicher als eine heile Welt.

"Hey. Anny."
Er nimmt mein Kinn, sodass ich ihn ansehen muss. In meinen Augen spiegelt sich meine Verletzlichkeit. Er hat sie offensichtlich gesehen, ich kann sie nicht verbergen.

"Ich wollte dich nicht traurig machen."
Sanft drückt er mir einen Kuss auf die Wange und zieht meine Hand in seine. Er verhakt unsere Finger miteinander.
Ich schenke ihm ein Lächeln, aber selbst mich überzeugt es nicht.

"Aber das ist schon eine lahme Antwort. Also mal ehrlich, ich würde mit 200 km/h in einem teuren Sportwagen rumfahren, mir einen Kaffee in einem Café holen und im Park mit fremden Leuten reden.", sagt er dann plötzlich und grinst mich schief an.
Meine Traurigkeit ist wie weggeblasen und ich lache laut auf.

"Na bitte, schon viel besser."
Athen grinst mich an.
"Also? Fällt dir noch was besseres ein?"

Er fordert mich auf, zu antworten und schaut mich erwartungsvoll an.
Ich denke eine Sekunde darüber nach.

"Ich würde Fahrrad fahren. Zumindest wenn ich es könnte. Wenn nicht würde ich es lernen.", sage ich beschämt.
Das ist ein kleiner versteckter Wunsch in mir. Ich sehe hier ab und zu kaputte und zerlegte Fahrräder und habe mich schon immer mal gefragt, wie man eins fährt.
Ich habe es nie ausprobiert, weil es mir nichts nützt. Die Hunter leben im Wald, da ist ein Fahrrad als Fortbewegungsmittel ungeeignet. Außerdem habe ich das Überleben dem Spaß vorgezogen, die ganzen letzten Jahre.
Athen lacht mich jetzt bestimmt aus.

Aber er zieht mich nur in seine Arme und drückt mich fest an sich.

"Das ist ein schöner Wunsch. Ich bringe es dir bei, bald, wenn du willst. Hübsche Anny.", flüstert er nur.

Ich lege meinen Kopf auf seine Schulter und schließe die Augen. Er verurteilt mich nicht. Jeder andere hätte es getan, weil ich an so sinnlose Dinge denke, die einem nichts nützen.
Tief atme ich seinen Geruch ein, der mich augenblicklich beruhigt.
Sanft streicht mir Athen über den Rücken.

"Anny, du bist anders. Aber ich mag das. Ich mag dich.", murmelt er kaum hörbar.

Aber ich höre es und es wärmt mir das Herz.

Langsam löse ich mich von ihm und schaue ihn an. Ich habe mich in Athen getäuscht und fange langsam an, ihm immer mehr zu vertrauen.

Athen grinst wieder schief. Ich tue es ihm gleich.

"Du kannst Fahrrad fahren? Wieso?", frage ich ihn, weil mich das brennend interessiert.

Athen lacht laut auf und setzt sich wieder gerade hin.
"Ich kann auch Auto und Motorrad fahren. Bei den Sunern kommt man mit dem Fahrrad schnell voran und da wir nicht ein Übermaß an motorisierten Fahrzeugen haben, kann eigentlich jeder Suner auch Fahrrad fahren.", antwortet er lachend.

Mein kleiner Wunsch ist für ihn quasi Selbstverständlichkeit. Und das macht mich noch glücklicher, weil das ein Grund mehr gewesen wäre, warum er mich hätte auslachen können.

Ich strecke meine Beine aus und lehne mich an ihn. Er legt den Arm um mich und ich schließe die Augen. Der Tag heute war sehr anstrengend, schon allein der lange Fußmarsch hier her.
Meine Gedanken driften ab und meine Lieder werden schwer. Ich schlafe unter der Wärme des prasselnden Feuers einfach ein.

The Hunters - In Zeiten des Krieges Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt