- 24. KAPITEL -

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In Gedanken versunken starre ich aus dem Fenster. Meine Gedanken drehen sich nur noch um das bevorstehende Gespräch. Die gesamte Fahrt über hat keiner von uns auch nur ein Wörtchen gesprochen. Auch Mom scheint das bevorstehende Gespräch zu beschäftigen. Ich kann förmlich sehen, wie sie sich Sätze zurechtlegt. Als wir endlich die Einfahrt hochfahren und vor der Haustür abbremsen würde ich am liebsten aus dem Auto springen, wenn ich könnte. Schnell bahne ich mir den Weg zur Haustür, während Mom nur langsam hinter mir her trottet. Dem Gespräch kann sie sowieso nicht mehr entkommen.

*****

"Mom! Jetzt setz dich bitte zu mir und erzähl mir, woher du Elva kennst", bettele ich sie während ich auf den Platz neben mir auf der Couch klopfe. Seit einer Stunde räumt sie Dinge hin und her, wischt mal hier mal dort und versucht so mir aus dem Weg zu gehen. "Es ist schwer zu erklären", fängt sie an, verstummt dann jedoch wieder schwer schluckend. "Dann versuch es wenigstens", bitte ich sie woraufhin sie aufsteht, um ein verstaubtes Fotoalbum aus der hintersten Ecke des Wandschrankes holt. Verwirrt schaue ich zwischen dem Buch und Mom hin und her. "Möchtest du ein Kinderfoto von dir sehen?", fragt sie mich leise. Mir stockt der Atem, denn Mom hatte mir mein Leben lang erzählt, alle Fotos und Erinnerungsstücke aus meiner Kindheit wären bei dem Hausbrand vor vielen Jahren vernichtet worden. Schwer atmend nicke ich, während ich gegen die aufkommenden Tränen ankämpfe. Jedoch schaffe ich es nicht, sodass mir die ersten heißen Tränen über die Wangen laufen - Vermutlich die Ersten von Tausenden. Schweigend blättert sie Seite für Seite durch meine Kindheit, an die ich mich nicht mehr erinnern kann. "Wer ist das?", frage ich während ich auf ein Bild zeige, welches mich und ein Mädchen im Alter von ungefähr drei Jahren abbildet. "Elva", flüstert sie, woraufhin ich sie überrascht ansehe. "Elva? Wie kann ich das verstehen?" Mom schüttelt den Kopf und ich spüre ihr Unwohlsein bis in meine Knochen. Ich lege meine Arme um sie, um sie zu beruhigen, obwohl ich nicht weiß, ob ich das kann. Nun bricht sie in Tränen aus und legt ihren Kopf auf meine Schulter. "Es tut mir so leid, dass ich dir nie was gesagt habe", schnieft sie während sie versucht ihre Tränen zu trocknen und tief durchatmet. "Ich glaube, ich muss von vorn beginnen", seufzt sie und wischt sich die letzte Träne aus dem Gesicht. "Per, du bist nicht hier geboren. Du bist in einer fremden Welt, in einer Stadt namens Kulana, geboren. Diese Stadt wirst du auf keiner Landkarte finden, denn sie ist für die Menschen dieser Welt nicht zugänglich." Fast hätte ich laut aufgelacht, da ich das, was ich da höre, nicht wirklich glauben kann. "Wie soll ich dir das denn glauben? Und was heißt denn Menschen dieser Welt? Bin ich etwa kein Mensch?", frage ich mehr amüsiert als ernst. "Doch schon, aber du bist ein besonderer Mensch . Jeder Bewohner Kulanas ist ein Oihana- somit auch du", erklärt sie und mit einem Mal wird mir bewusst, dass auch Mom "besonders" sein muss. "Bist du auch ein...", fange ich an, doch Mom kommt mir zuvor: "ein Oihana. Ja Per". Das alles kommt mir so absurd und doch so bekannt vor. Diese ganze Geschichte verwirrt mich vollkommen. "Und was macht uns so besonders? Ist nicht jeder Mensch besonders?", erkundige ich mich bei Mom, die immer noch auf die Fotos in dem Album starrt. "Du hast ja Recht. Jeder Mensch ist besonders - Jeder ist einzigartig. Aber die Oihanas haben übernatürliche Fähigkeiten." Das ist der Moment, in dem mir ein Licht aufgeht. "Deshalb kann ich Glas zerspringen lassen und Wasser formen", stelle ich nachdenklich fest. Mom seufzt laut auf: "Ja, wahrscheinlich. Es ist jedoch ein wenig komplizierter, als du denkst. Unser Volk wird in fünf Sektoren eingeteilt. Jeder Sektor kann ein anderes Element beherrschen. Die Keahis können das Feuer beherrschen, das heißt sie können Feuer entfachen, löschen, formen und noch vieles mehr. Dasselbe können die Kawais mit Wasser, die Keas mit Luft und die Kanos mit der Erde." " Und was ist das fünfte Element?", frage ich Mom, die nun endlich wieder ein wenig Farbe ins Gesicht bekommen hat. "Das fünfte Element ist der Geist. Die sogenannten Kamanas waren in der Lage den Geist jedes Lebewesen zu beeinflussen. Sie hatten einst die Aufgabe das Volk zu beschützen", sie schaut melancholisch auf das Album in ihrer Hand. "Warum sprichst du in der Vergangenheit?", möchte ich von Mom wissen. Jedoch steht sie auf, um uns Tee zu holen. Danach kuschelt sie sich wieder zu mir unter die Decke. "Einige Kamanas waren zu gierig. Sie missbrauchten ihre Fähigkeit und wandten sie gegen das eigene Volk an. Sie manipulierten die Oihanas und raubten ihnen ihre Fähigkeit. Somit wurden sie die Mächtigsten in Kulana." Traurig schaut mich Mom an während sie mit dem Finger über den Rand des Teeglases gleitet. "Per, bitte lass uns morgen weiterreden. Ich bin jetzt müde. Kümmerst du dich selbst um dein Abendessen?" Ich nicke ihr  leicht zu und ziehe sie dann nochmal in eine feste Umarmung. "Danke, dass du mir die Wahrheit erzählt hast. Ich hab dich lieb", flüstere ich ihr ins Ohr folgend einem Wangenkuss.

*****

In meinem Kopf drehen sich die Gedanken ohne dass ich auch nur einen festhalten könnte. Ich sitze im Bett und starre Löcher in Luft. An Schlafen ist in in diesem Moment gar nicht zu denken, obwohl ich morgen wieder zur Schule muss. Soll ich Kenai und Koda alles erzählen oder es lieber erstmal verheimlichen bis ich mich selbst daran gewöhnt habe? Wie wird es wohl Mom jetzt gehen und warum leben wir nicht in dieser besonderen Stadt, sonder hier? Während des Gesprächs vorhin fand ein ständiger Farbenwechsel zwischen Dunkelblau, der Trauer, und Flammenrot,  der Wut, statt. Zwischendurch sah ich immer mal wieder ein freundliches Hellgelb aufblitzen, ein Zeichen der Erleichterung. Gern hätte ich mich noch weiter mit Mom über diese fremde Welt unterhalten, doch nun wird meine Liste an offenen Fragen immer länger. Vielleicht sollte ich aufschreiben. Doch noch ehe ich mich weiter mit dem Thema beschäftigen kann, übermannt mich doch die Müdigkeit und ich falle in das unendliche Schwarz.

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