Als ich das Haus verließ, spürte ich wie jeden Tag seine Anwesenheit hinter dem Fenster. Wirklich jeden Tag. Am Anfang, also dem Zeitpunkt, an dem ich ihn zum ersten Mal wahrgenommen habe, habe ich es irritierend und merkwürdig gefunden.
Ich habe geglaubt, er würde nur wegen mir vor seinem Fenster sitzen und mir dabei zusehen, wie ich zu meinem Wagen ging. Wenn ich daran zurück denke, kann ich nicht verstehen wie selbst überzeugt ich von mir war. Ich dachte wirklich es ging nur um mich. Aber, nein. Er saß dort, weil er selbst kurz nach mir seine Wohnung verlässt und zu seiner Arbeit aufbricht. Das wusste ich aber auch erst seit Kurzem, weil ich einen Tag Urlaub hatte und ich an diesem Tag ihn beobachten konnte. Er fuhr knapp zehn Minuten nach meiner Zeit mit seinem Auto weg.
Von da an war ich weniger besorgt, dass er ein Stalker sein könnte. Und seit letztem Donnerstag, der nun schon fünf Tage her sein müsste, habe ich mich sogar gefreut ihn am Fenster sitzen zu sehen, wenn ich das Haus verließ. Ich fühlte mich sicher. Und obwohl wir weder direkten Blickkontakt, noch ein Wort miteinander gewechselt hatten, fühlte ich mich mit ihm verbunden. Außerdem, aber das ist nur meine Überlegung, wäre ich vor Übergriffen auf dem kurzen Weg zu meinem Twingo geschützt oder mein Nachbar würde es zumindest mitbekommen und mir zur Hilfe eilen. Eigentlich ist das eine total absurde Vorstellung, denn wann passiert so etwas schon? Aber trotzdem fühlte ich mich durch ihn sicher.
Auch heute. Wenn nicht sogar etwas mehr, denn ich konnte durch Zufall einen kleinen Blick in sein Privatleben werfen. Oh je, dass klingt, als würde ich wie ein Stalker durch seine Fenster spähen, nur um ihn mit Glück in Unterwäsche zu sehen. Nein. So etwas würde ich niemals tun. Ich war nicht pervers! Na ja, zumindest was das reale Leben betraf, aber ich schweife ab.
Der Einblick in sein Privatleben geschah vor knapp drei Tagen. Mein kleiner Twingo wollte schon am Vortag nicht mehr so richtig funktionieren. An dem Tag wollte er aber noch nicht mal mehr anspringen. Darum musste ich mir eine Lösung einfallen lassen. Meine Eltern, mit denen ich noch zusammen lebte, waren für einige Zeit auf eine Kreuzfahrt gefahren, was sich alte Menschen eben so gönnten. Doch ihren Wagen haben sie vor ihrer Abfahrt an einen Freund verliehen. Somit sah ich für eine pünktliche Ankunft bei meiner Arbeit nur eine letzte Chance. Ich musste meinen Beschützer – so nannte ich meinen Nachbar für mich selbst – darum bitten, mich mitzunehmen. Als ich also endlich mein Haus verließ, hastete er gerade zu seinem Auto. Auch er schien spät dran zu sein. Ich ging zu ihm und fragte höflich, aber bestimmt, ob er mich mitnehmen könnte, da mein Wagen nicht funktionierte. Er hatte damit kein Problem, weshalb er mich mitnahm.
Nachdem ich ihm die Adresse genannt hatte und auf die Uhrzeit hingewiesen hatte, haben wir nicht mehr miteinander gesprochen. Obwohl man nicht wirklich von einem Gespräch hätte sprechen konnen, denn er hat kein Wort gesagt. Ich hätte gerne seine Stimme gehört, aber ich hatte sowieso das Gefühl, dass er kein Morgenmensch war und darum so Früh nicht gerne eine Unterhaltung führte. Jeder Mensch war anders. Davon abgesehen konnte ich meinen Beschützer bei dieser Gelegenheit endlich besser betrachten und so sind mir vor allem seine funkelnden blauen Augen im Gedächtnis geblieben. Seine schwarzen Haare passten sehr gut zu seiner Kleidung, die mich irgendwie an einen Handwerker erinnerte. Vielleicht arbeitete er als Tischler oder so. Zu meiner Schande musste ich zugeben, dass ich ein sehr neugieriger Mensch war, weshalb ich mich in seinem gesamten Auto gründlich umgesehen hatte, natürlich so unauffällig wie möglich. Doch nachdem ich nichts aussagekräftiges gefunden hatte, blieb mir doch nichts anderes, als auch in das Handschuhfach zu schauen. Dort habe ich dann die Entdeckung des Tages gemacht. Darin fand ich nämlich einen Manga und dazu noch einen aus meiner Lieblingsreihe. Leider hatte er es mir schnell wieder abgenommen und zurückgeworfen, bevor ich überhaupt darin blättern konnte. Ich war so überrascht, dass ich die ganze restliche Fahrt über keine Worte finden konnte.
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The Girl across the Street
Fiksi RemajaBenjamin hat ein Auge auf seine Nachbarin geworfen. Aber bisher hat er sich nicht getraut sie anzusprechen. Das ändert sich, als sie auf ihn zukommt.