Kapitel 1

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June

Wenn man noch nie zuvor in London gewesen ist, könnte man meinen, es wäre eine dieser Städte, in denen der Tag genauso wie die Nacht gelebt wird. Als gehöre es selbst zum Alltag derer, die am nächsten Tag zur Arbeit müssen, noch nach Mitternacht in den Straßen zu sein, um die Lacher der Menschenmassen, welche sich in Bars vergnügen, zu verstärken.

Doch wenn man eine Weile hier verbracht hat, weiß man genau, welche Art von Menschen um diese Zeit noch unterwegs ist.

In den wenigsten Fällen sind es die, die so spät noch von der Arbeit kommen oder aus einem anderen bestimmten Grund noch außen sind.

Meistens sind es Menschen, die etwas verloren haben, oder sich einfach verloren fühlen. Menschen, die ihren Kummer oder ihren Frust in ein paar Gläsern Whiskey ertränken wollen.

Eigentlich trinke ich nie, doch heute steht sowohl mir, als auch meiner Arbeitskollegin, der Sinn danach. Es war nur eine Frage der Zeit, bis man uns feuern würde, da die Zahl der Anfragen inzwischen schlichtweg zu hoch ist.

Während dem Krieg hätte ich keine bessere Chance haben können, einen Bürojob zu kriegen. Doch nach Kriegsende wurde es immer schwerer, die Stelle zu behalten, da alle Männer ihre Arbeit wieder übernehmen wollten.

"Auf unsere Entlassung", meint Ruth nun zum dritten Mal und stößt mit mir an. "Ich bin das Kaffeekochen sowieso leid", entgegne ich lachend, obwohl ich eigentlich froh darüber war. Selbst wenn mein Vorgesetzter mich den ganzen Tag nur rumgescheucht hat, so war es doch eine eigene Arbeit.

Ruth habe ich genau dort vor ein paar Jahren kennengelernt. Wir haben uns auf Anhieb gut verstanden und sie wusste, meinen Alltag erträglicher zu machen. Doch jetzt hat sie einen Ehemann und plant mit ihm ein Kind zu kriegen.

Daher vermute ich auch, dass sie insgeheim froh ist, in Zukunft zuhause zu sein, auch wenn sie jetzt noch frustriert wirkt. Sie hat schon so lange davon geschwärmt, eine Familie zu gründen.

Eigentlich sollte man unglaublich dankbar sein, einen Mann zu haben, der sich um ein festes Einkommen sorgt. Eine Wohnung, in der es sich mehr als gut leben lässt. Viele denken, für eine Frau wäre dies die Erfüllung ihres Lebensziels.

Vielleicht trifft das auch auf manche zu, so wie auf Ruth. Aber definitiv nicht auf mich.

Ich war froh, jeden Tag eine Aufgabe zu haben, der ich nachgehen kann. Ganz egal wie klein mein Einkommen gewesen ist, ich war aus Prinzip stolz darauf, auch wenn das meines Mannes mehr als ausreichend ist.

"Es ist spät geworden, James wartet auf mich. Ich bedanke mich bei dir für den wunderschönen Abend. Welch Ironie, dass er wegen unserer Entlassung zustande gekommen ist!"

Mit diesen Worten reißt mich Ruth aus meinen Gedanken. Sie hatte recht, es ist spät geworden, und mein Mann würde davon nicht begeistert sein.

Mit einer raschen Umarmung verabschieden wir uns und ich mache mich sofort auf den Weg nach Hause. Während dem Heimweg blicke ich immer wieder auf meine Taschenuhr - ein Geschenk von meinem Gatten. Damit ich immer weiß, wann ich daheim zu sein habe - er hasst Unpünktlichkeit.

Mit einem unwohlen Gefühl im Magen sperre ich die Tür zu unserem Apartment auf, streife meinen Mantel und die Schuhe ab, und betrete die Wohnung. Sofort fällt mir die leere Whiskey-Flasche auf dem Wohnzimmertisch auf.

"Wo warst du?"
Die Gleichgültigkeit in seiner Stimme würde jeden glauben machen, die Frage sei tatsächlich beiläufig gemeint. Doch mir ist völlig bewusst, dass er innerlich vor Wut brodelt.

Er sitzt mit dem Rücken zu mir in seinem Sessel, und tippt mit Zeige- und Mittelfinger abwechselnd auf die Armlehne.
Tipp, tipp.
Tipp, tipp.

Wie er es so oft tut, wenn er unzufrieden mit mir ist. Die Bewegung macht mich nervös. Langsam dreht er sich zu mir um, wiederholt seine Frage, und betont diesmal jedes einzelne Wort:
"Wo. Warst. Du."

Ich weiß, dass ihn meine ausbleibende Antwort ungeduldig macht, selbst, wenn seine Stimme trotz der Akzentsetzung immer noch komplett gleichgültig wirkt.
Tipp, tipp.
"Ich war mit Ruth noch in der Bar, die Straße runter"

"Denkst du, ich glaube dir das? Ich weiß doch, dass du mich wieder betrogen hast! Du glaubst im Ernst, du kannst mich verarschen, oder?"

Tipp, tipp, tipp.
Das Tippen ist jetzt schneller, unruhiger. Ganz im Gegensatz zu seiner Stimme, welche selbst bei dieser aggressiven Wortwahl noch völlig gelassen klingt. Kalt. So wie immer. Selbst, wenn er getrunken hat.

"Ich habe dich niemals betrogen, und ich würde es auch niemals tun. Das weißt du"
Beim letzten Satz bricht meine Stimme, und ich spüre Tränen in meinen Augen aufsteigen.

Tipp, tipp, tipp.
Mir ist klar, was er jetzt tun würde. So oft war es bereits so. Und jedes einzelne Mal hasse ich ihn dafür. Aber ich habe nicht die Kraft, mich zu wehren. Er hat Kontrolle über mich, er hat Macht über mich, und er hat sich noch nie gescheut, mir das zu demonstrieren.

Wenn der Schnaps seine Sinne vernebelt, wird er sehr schnell aggressiv. Es ist der Alkohol - er treibt die Menschen zu Dingen, welche sie nüchtern niemals tun würden.

Betont langsam erhebt er sich aus seinem Sessel und geht die paar Schritte zu mir.
"Lüg mich nicht an"
Mit diesen Worten packt er mein Handgelenk und drückt so fest zu, dass ich aufkeuche.

"Henry, du bist mein Ehemann. Ich liebe dich. Das musst du mir glauben.."
"Was ist deine Liebe wert, wenn du sie anderen Männern zugänglich machst? Nichts! Genauso wenig wie du."

Obwohl ich diese Worte bereits so oft gehört habe, treffen sie mich doch jedes Mal. Letztendlich ist er doch eine der sehr wenigen Personen in meinem Leben, die sich tatsächlich für mich interessieren. Er liebt mich, auf seine Art eben...

Noch während dieser Gedanke in meinem Kopf nachhallt, löst er seinen Gürtel aus dem Hosenbund und holt aus. Durch den Schmerz fange ich nun tatsächlich an zu weinen. Die Scham dafür treibt mir die Röte ins Gesicht.

Sein Lächeln ist das Schlimmste für mich... er schlägt mich erneut... und lächelt dabei.
"Du solltest mich niemals wieder so anlügen, June. Denn das macht mich sehr wütend, und diese Wut will ich dann an dir auslassen."

Ich hasse ihn, für den Schmerz, den er mir antut, und für die Demütigung, die ich jedes mal fühle. Aber viel mehr hasse ich mich für meine Schwäche... ich lasse ihn das mit mir machen, und habe nicht den Mut, mich gegen ihn aufzulehnen. Aber es ist ja auch nicht wirklich er, der das tut. Er ist betrunken...

Ein weiterer Schlag, und noch einer. Dann lässt er von mir ab, und geht ins Schlafzimmer.

Schluchzend lehne ich mich gegen die Wand, und rutsche an ihr herunter zu Boden. Die Stellen, an denen sein Gürtel mich getroffen hat, brennen, und an auch meine Handgelenke sehen lädiert aus von seinem Griff. Spätestens morgen würden dort blaue Flecken zu sehen sein.

Meine Gedanken kreisen schon wieder darüber, wie ich die Striemen und Flecken am besten kaschieren würde: eine langärmelige Bluse auf jeden Fall, hochgeschlossen, wie immer, um die alte Narbe an meinem Hals zu verdecken.

Ich habe nicht die Kraft, um aufzustehen. Also bleibe ich einfach so sitzen und weine vor mich hin, bis ich schließlich eingeschlafen bin.

Perfectly Shattered (girlxgirl)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt