Kapitel 5

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June

"Du wirst nun deine Finger von ihr nehmen und sie aufstehen lassen. Und ich möchte mich kein weiteres Mal wiederholen müssen."

Als Lucilles Stimme so schneidend den Raum ausfüllt, eisiger als jeder Wintersturm, fühlt es sich an wie ein Schlag in mein Gesicht.

Dabei bin nicht einmal ich die Person, an die ihre Aussage adressiert war. Und dennoch lässt mich der kalte Zorn, der in ihrem Tonfall mitschwingt, zusammenzucken.

Fast ehrfürchtig beobachte ich, wie sie dem Dank der Kellnerin mit einen kleinen Nicken begegnet, sich anmutig umdreht, und durch den Raum zu ihrem Platz schreitet. Ihrem Platz neben mir.

"Erzählen Sie mir von Ihrem Mann", erklingt auf einmal Lucilles Stimme. Nicht forsch, nicht freundlich, sondern sehr sachlich.

Die Frage veranlasst mich dazu, mit einem kurzen panischen Blick in alle Richtungen meine Umgebung abzusichern. Aber nein, Henry ist daheim. Natürlich. Vermutlich schläft er seinen Rausch aus, den Kopf auf der Sessellehne abgestützt, die Flasche ist ihm aus der Hand gerutscht.

So, wie ich ihn schon oftmals aufgefunden habe. Morgens, wenn ich zur Arbeit ging, oder nachts, wenn mich mein unruhiger Schlaf erwachen ließ. Nein, er weiß nicht wo ich bin. Er ist nicht hier. Er kann mir nicht weh tun.

Ich hatte gar nicht gemerkt, wie meine Gedanken abgeschweift sind. Doch jetzt spüre ich Lucilles starren, fragenden Blick auf meiner Haut. Es müssen einige Sekunden vergangen sein, in denen ich abwesend war.

Ich erzwinge mir ein Lächeln, und beginne zu antworten: "Nun ja, Henry ist... an sich ein wunderbarer Mann. Er hat natürlich auch seine Makel, so wie wir alle sie haben, nicht wahr? Aber er liebt mich. Er liebt mich unendlich. Und ich kann sehr froh sein, ihn zu haben."

Lucilles Blick verhärtet sich mit einem Mal. Das Blau in ihren Augen wird noch eisiger, als es ohnehin schon ist. Langsam teilen sich ihre Lippen, die sie vorher zusammengepresst hatte.

"Er verletzt Sie."

Und da ist sie wieder. Diese Wut in ihren Augen, dieser kalte Zorn, den ich soeben schon während der Begegnung mit dem Mann gesehen hatte.

Ich wusste nicht, was ich darauf erwidern sollte. Konnte. Durfte. Niemals könnte ich in der Öffentlichkeit über das sprechen - und dann noch mit einer Person, die ich seit nicht einmal einer halben Stunde kenne - was doch den dunkelsten Teil meiner Beziehung ausmachte, den schwärzesten Teil meiner Gegenwart.

Niemand darf es wissen. Das hat er mir von Anfang an klar gemacht. Es könnte ihn seinen Beruf kosten, seine Reputation. Ich könnte ihn verlieren.

Plötzlich muss ich ein paar Tränen zurückkämpfen, die mir in die Augen schießen. Es ist mir unangenehm, und so wende ich mich ab. Meine Stimme ist beinahe ein Flüstern als ich erwidere: "Es ist nicht seine Schuld."

Als ich meinen Blick wieder hebe und dem von Lucille begegne, meine ich für einen Augenblick so etwas wie tiefes Verständnis... ja, vielleicht sogar eine Art der Zuneigung in ihren Augen zu erkennen.

Doch dann kehrt die Strenge, die ihr wohl eigen ist, zurück und ich blicke in ein Gesicht, das trotz seiner Schönheit so kalt und sachlich ist wie schon den ganzen Abend lang. Vielleicht habe ich mich auch geirrt...

Der Alkohol ist mir mittlerweile so sehr zu Kopf gestiegen, dass meine Sicht unklar ist und zu verschwimmen scheint. Nein, ich fühle mich nicht wohl. Übelkeit schleicht von meinem Magen in meine Kehle.

"June... Sie sollten aufhören zu trinken", sagt Lucille, die meine Trunkenheit anscheinend bemerkt hatte. Aber wie sonst soll ich denn ertragen, was in mir vorgeht?

Dann fällt mir auf, dass ich dringend eine Toilette aufsuchen muss... und das eigentlich schon etwas länger. Also stütze ich mich an der Bar auf und versuche mich zu erheben. Doch meine Füße scheinen mein Gewicht nicht tragen zu wollen, meine Beine scheinen mir so schwach.

Als ich endlich stehe, beginnt alles plötzlich fürchterlich zu schwanken. Wie viel hatte ich getrunken?

Vorsichtig setze ich einen Fuß vor den anderen und halte mit Mühe mein Gleichgewicht. Meine Augen nehmen verschwommen ein Schild mit der Aufschrift "WC" war, und ich bewege mich in die Richtung.

Am Türrahmen muss ich mich aufstützen, schaffe es dann aber, auf die Toilette zu gehen. Kurz darauf muss ich mich erbrechen. Ich fühle mich schrecklich, dreckig.

Auf wackeligen Beinen schaffe ich es aus der Kabine und vor den Spiegel über dem Waschbecken.

Da stehe ich also, im schummerigen Licht von mit Staub bedeckten Neon-Röhren, in einem kleinen, nicht gerade sauberen Badezimmer, und blicke in diesen ebenso nicht geputzten Spiegel, meine Hände auf das Waschbecken gestützt.

Was für ein erbärmliches Bild ich abgebe, stelle ich fest. Ein weiteres Mal. Wie bereits so viele Male davor.

Mit fahrigen Bewegungen wasche ich meine Hände und meinen Mund und mache Anstalten, das Bad zu verlassen-

Da steht Lucille im Türrahmen, in ihrer ganzen edlen Aufmachung, inmitten dieses dreckigen Badezimmers. Es erscheint mir so surreal... was macht diese Frau denn hier? Jemand wie sie gehört doch nicht hierher, nicht hier herein.

Kurz habe ich Angst, dass mir der Alkohol einen Streich spielt. Doch dann macht sie einen Schritt nach vorn und erhebt ihre Stimme: "June... es geht Ihnen nicht gut. Ich möchte Ihnen anbieten, mich über die Nacht in mein Apartment zu begleiten. Da wären Sie sicher, zumindest für die Nacht"

Was sagt sie da? Bietet mir einen Schlafplatz bei ihr an? Sie? Mir?

Die Fähigkeit, selbst meine Gedanken klar zu formulieren nimmt von Sekunde zu Sekunde ab.

Ich habe weder die Kraft zu widersprechen, noch mit Worten zuzusagen, also nicke ich schwach. Nach einem auffordernden "Kommen Sie!" von Lucille setze ich mich in Bewegung und versuche ihr zu folgen.

Als wir schon fast am Ausgang sind bleibe ich plötzlich schwankend stehen und blicke zurück zur Bar.

Lucille muss meinen Blick bemerkt haben, denn sie nimmt mich sacht am Oberarm und führt mich weiter Richtung Ausgang.

"Das ist alles geklärt", sagt sie beruhigend, "ich habe bereits gezahlt. Machen Sie sich keine Gedanken".

Ich nehme noch wahr, wie sich vor mir die Tür eines schwarzen, schlanken Autos öffnet und ich sanft hineingeschoben werde. Die Tür schließt sich, wir fahren. Dann bin ich weg.

Kurz erwache ich, sehe die Lichter der Stadt an mir vorbeiziehen. Dann versinke ich wieder in dem weißen Ledersitz, mein Kopf fällt zur Seite, auf der Rückbank von Lucilles Auto.

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⏰ Letzte Aktualisierung: Nov 28, 2020 ⏰

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Perfectly Shattered (girlxgirl)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt