Kapitel 3

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June

Mit dem Betreten der Bar schlägt mir eine Wolke aus Zigarettenrauch, Alkoholfahnen und dem Geruch nach Schweiß entgegen. Leicht angewidert rümpfe ich die Nase und gucke mich um, noch immer im Eingang stehend.

Die Tische sind fast allesamt belegt mit angetrunkenen, etwas heruntergekommen wirkenden Menschen. Lauthals lachend schütten sie sich den Inhalt ihres Glases in den Mund.

An der Stirnseite des Raumes befindet sich eine massive Theke mit hohen Barhockern, von denen die meisten ebenfalls besetzt sind.

Nur auf der rechten Seite sind noch freie Stühle - bis auf einen, auf dem eine elegant gekleidete Frau sitzt. Sie sticht mir sofort ins Auge, denn sowohl ihre Kleidung als auch ihre Ausstrahlung scheinen in eine solche Bar nicht zu passen.

Ihr langes, smaragdgrünes Kleid, welches ihre schmale Taille betont, fällt ihr fließend über die anmutig übereinandergeschlagenen Beine.

Ihr Gesicht wird halb verdeckt von einem schwarzen Hut mit breiter Krempe, der in seiner auffälligen Eleganz einen noch stärkeren Kontrast zu der sonst so verwahrlosten Erscheinung der Gäste schafft.

In ihrer Grazie kaum zu übertreffen halten ihre in schwarze, lange Handschuhe gehüllten Hände einen edel aussehenden Zigarettenhalter locker zwischen Zeige- und Mittelfinger.

Warum sitzt sie dort umringt von leeren Plätzen? Eine so schöne Frau müsste doch sofort angesprochen werden.

Und doch sitzt sie ganz allein auf ihrem Barhocker. Irgendetwas an ihr verleitet mich dazu, die Bar endlich ganz zu betreten und mich auf einen der leeren Stühle in ihrer Umgebung zu setzen.

Ich habe sowieso nichts zu verlieren. Heute Nacht kann ich nicht nach Hause bevor Henry schläft, sonst wird er seine ganze Wut an mir auslassen.

Als ich mich setze kann ich nicht umhin, die Frau neben mir ein weiteres Mal zu betrachten. Die Perfektion ihrer Erscheinung wirkt einschüchternd auf mich.

Zögerlich blicke ich an ihr herunter, und dann an mir - verdammt, ich trage ja nicht einmal Schuhe, da um diese anzuziehen während meiner Flucht nicht genügend Zeit gewesen wäre.

Wie erbärmlich ich im Gegensatz zu ihr wirke, mit meinem grauen Kleid, dessen erster Knopf nicht ordentlich geschlossen ist; einer Frisur, die sich während ich gerannt bin halb aufgelöst hat; und in Strümpfen, die vom Asphalt zerrissen wurden.

Mein Anblick ist mir unangenehm, besonders vor ihr - aber zum Glück hat sie mich vermutlich noch gar nicht wahrgenommen. Sie sitzt exakt in der gleichen Position wie eben auf ihrem Stuhl, und blickt nach vorne.

Verlegen winke ich dem Barkeeper und bestelle ein Glas Gin mit Eis, an das ich mich nun, so allein an der Theke sitzend, klammere.

Ich fühle mich so niedergeschlagen. Was passiert nur in meinem Leben? Vor 15 Minuten bin ich vor meinem Mann weggerannt, der mir weh tun wollte. Die Person in meinem Leben, die mich doch eigentlich beschützen sollte.

Ich weiß nicht, wie viel länger ich das noch kann... auch wenn mir ja klar ist, dass es nicht er ist, der mich so behandelt... sondern sein betrunkenes Ich. Doch trotzdem tut es jedes Mal so unglaublich weh.

Der körperliche Schmerz ist das eine - an den habe ich mich mittlerweile fast gewöhnt. Der seelische Schmerz ist weitaus schlimmer.

Noch ein letzter Schluck Gin, dann ist das Glas leer. Mit der rechten Hand winkend bestelle ich ein Weiteres.

Der Zigarettenrauch der Dame neben mir, die soeben einen weiteren Zug genommen hat, bildet ein kleines Kunstwerk aus sich windenden und dauerhaft verändernden Schlieren in der Luft.

Eigentlich rauche ich nicht mehr, aber irgendetwas reizt mich soeben, es mal wieder zu tun. Vielleicht, um es Henry heimzuzahlen, der es immer gehasst hat, wenn ich geraucht habe. Oder um es mir selbst heimzuzahlen, dafür, dass ich überhaupt so tief gefallen bin.

Zögerlich wende ich mich nach rechts, der Frau zu, über die ich nachdenke, seit ich die Bar betreten habe.

"Hä-... Hätten Sie vielleicht eine Zigarette für mich?", frage ich stotternd. Ich fühle mich wie ein kleines Kind dafür, dass ich mich von ihr so verunsichern lasse.

Ohne mich nur eines Blickes zu würdigen, kramt sie aus ihrer kleinen Handtasche ein edel wirkendes, silbernes Zigarettenetui heraus, öffnet es, und reicht mir wortlos eine Zigarette herüber. Darauf folgt noch ein Feuerzeug.

Schüchtern bedanke ich mich, und stecke die Zigarette an. Es tut gut, endlich wieder zu rauchen. So lange hatte ich dieses Gefühl nicht mehr... den Geschmack auf meiner Zunge, den ich eigentlich nie mochte, und das kratzige Gefühl in meiner Kehle, wenn ich den Rauch einatme.

Seit zwei Jahren rauche ich nicht mehr - seit ich 21 bin also. Henry hat mich immer wieder gebeten damit aufzuhören.

"Waren Sie schon einmal in dieser Bar?"
Der Klang der dunklen, attraktiven Frauenstimme lässt mich zusammenzucken. Verdattert schaue ich wieder zu ihr herüber. Noch immer hat sie nicht mal ihren Kopf gedreht.

"Um ehrlich zu sein, weiß ich es gar nicht. Oder... bin mir nicht sicher... ich glaube nicht.", antworte ich verwirrt und wahrheitsgemäß.

Sie nimmt einen Schluck von ihrem Martini und erwidert: "Zumindest habe ich Sie hier noch nie gesehen. Und ich bin doch des Öfteren Gast in diesem Pub."

Ich weiß nicht was es ist, aber irgendetwas an ihr bringt mich total aus dem Konzept. Sie wirkt so extrem... distanziert. Unnahbar.

"Mein Name ist Lucille. Lucille Delavan."

Mit diesen Worten dreht sie sich endlich ein Stück weit herum, und blickt mir direkt in die Augen. Ich erstarre kurz.

Ihre Augen sind von einem eisigen Blau, welches so kalt wirkt, als wäre es der Winter selbst, der mir gerade sein filigranes Gesicht zuwendet.

Sie hat lange, schwarze Wimpern und hohe Wangenknochen, die ihr Gesicht sehr nobel und herrisch wirken lassen. Ihre akkurat aufgesteckten, blonden Haare unter dem eleganten, schwarzen Hut umrahmen ihr Gesicht perfekt.

Mir fällt auf, dass sie etwas Trauriges an sich hat. Aber ich glaube auch zu spüren, dass diese Traurigkeit tiefer liegt.

Manche Menschen können schlichtweg mit den Augen lächeln, ohne auch nur eine Miene zu verziehen - ihr Blick hat etwas Ernstes an sich, selbst, wenn sie sich ein Lächeln erzwingt.

Ich frage mich, wie eine so abweisende Präsenz Interesse in mir wecken kann. Am liebsten würde ich sie einfach direkt fragen, was sie hinter ihrem Lächeln verbirgt, welche Geschichte es erzählt und was es brauchen würde, damit dieses wieder echt - und nicht mehr vorgetäuscht ist. Aber wer würde schon so nah an sie herankommen können?

"Und wie lautet Ihr Name?"

Schon wieder habe ich mich in meinen Gedanken verfangen.

"June Averell."

Perfectly Shattered (girlxgirl)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt