Kapitel 2

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June

Am nächsten Tag schmerzen nicht nur die Striemen von Henrys Gürtel, sondern auch mein Nacken ist extrem steif. Als ich langsam aufstehe spüre ich, wie sich der Schmerz durch meinen ganzen Körper zieht.

An der leeren Whiskeyflasche im Mülleimer bemerke ich, dass Henry schon wach ist. Stumm beobachte ich ihn, wie er in seinem schwarzen Anzug, den er für seine Arbeit als Bankier trägt, in der Küche steht und Frühstück zubereitet.

Bei dem Anblick kann ich mir das Lächeln nicht verkneifen. Schon immer habe ich Anzüge an ihm geliebt. Er sieht in ihnen so elegant und kultiviert aus.

"Guten Morgen, June. Ich habe dich gar nicht bemerkt." Seine Worte reißen mich aus meinen Gedanken und bringen mich in die Realität zurück. Es ist mir irgendwie unangenehm ihn einfach lächelnd angestarrt zu haben, nach all dem was letzte Nacht passiert ist.

Er sieht mich an und ich blicke zu Boden. Dennoch spüre ich, wie sein Blick mein Gesicht abtastet und daraufhin über die blauen Flecken an meinen Handgelenken gleitet.

"June. Was auch immer passiert ist... du weißt, dass ich dich liebe."

Seine Stimme hört sich wieder ganz anders an. Mir fällt es immer noch schwer ihm direkt ins Gesicht zu blicken, und somit starre ich weiterhin auf den Boden. Ich weiß, dass er mich liebt. So oft hat er es mir bewiesen. Der Mann, der vor mir steht, ähnelt keineswegs dem von letzter Nacht. Denn irgendwo liebt er mich.

Ich weiß, dass er mich liebt. Letztendlich hat der Alkohol meine blauen Flecken und Striemen verursacht, nicht er. Denn Henry liebt mich doch.

"Ich weiß." Meine Stimme hört sich zerbrechlich an und ich hasse mich dafür. "Ich weiß, Henry.", wiederhole ich mich, um meiner Aussage mehr Selbstbewusstsein zu verleihen.

"Gut. Es wird nicht mehr vorkommen, June. Denk daran, deine Arme zu verdecken. Nicht, dass das jemand sieht."

Mit diesen Worten zieht er sich den Mantel an und verabschiedet mich daraufhin mit einem flüchtigen Kuss auf die Wange.

Die Tür fällt zu und ich bin wieder alleine. Mit einem Blick auf den Küchentisch bemerke ich, dass er das Frühstück für mich zubereitet hat, aber ich habe keinen Hunger.

Seine Worte hallen immer noch in meinem Kopf nach. Es wird nicht mehr vorkommen, June. Ich würde ihnen so gerne Glauben schenken, aber wie sollte ich dazu in der Lage sein, wenn er es doch schon so oft gesagt hat, und es trotzdem wieder passiert ist?

Henry hat es mir jedes mal gesagt, und dennoch hat er kurze Zeit später erneut zur Flasche gegriffen und es wieder getan.

Ich weiß, dass er ein guter Mensch ist und ich habe nie daran gezweifelt. Ich werde nie vergessen, wie ihm Tränen in die Augen geschossen sind, als ich vor 2 Jahren seinen Antrag angenommen habe.

Was für schöne Tage wir miteinander verbracht haben, als wir endlich zusammengezogen sind. Er hat sich immer darum bemüht, mich glücklich zu machen.

Ich würde alles dafür tun, wieder in diese Zeit zu gelangen. Als alles noch so unbeschwert war, unsere Liebe so echt und ehrlich, damals, als der Schnaps ihn noch nicht seiner Sinne beraubt hat.

Gedankenverloren lege ich eine Platte von Frank Sinatra auf und "Embraceable you" beginnt zu spielen. Weitere Erinnerungen kommen auf... wie wir zu diesem Lied getanzt haben... damals, als noch alles gut war.

Embrace me, my sweet embraceable you

Es waren die Nächte, in denen wir nicht müde wurden zu tanzen. Als er mich ausführte zu Abendveranstaltungen und Konzerten. Als sein Blick noch voll von Liebe für mich wahr.

Und als die Uhr eines Abends auf weit nach Mitternacht stand, und die Musik langsamer und lieblicher wurde, da erkannte ich, was ich für ihn empfand. Ich dachte, mein Glück gefunden zu haben in einer Zukunft mit ihm...

Embrace me, you irreplaceable you

Gemeinsam ließen wir uns auf der Tanzfläche von der Musik leiten. Unsere Bewegungen verschmolzen miteinander, wir wurden zu einer Einheit.

Ich weiß noch, dass ich meine Augen geschlossen, und meine Wange auf seine Schulter gelegt hatte. An diesen Moment denke ich selbst heute noch so oft zurück...

I love all the many charms about you
Above all, I want these arms about you

Ich hatte gar nicht bemerkt, dass ich begonnen hatte, mich im Takt der Musik zu wiegen, bis ich auf einmal wegen einem starken Schmerz in meiner Hüfte zusammenzucke. Dadurch werde ich wieder mit der Realität konfrontiert: denn diese Tage sind lange vergangen.

Ich beschließe, dass es Zeit ist für eine Dusche. Vorsichtig ziehe ich meine Klamotten aus, bis ich schließlich nackt vor dem Spiegel stehe. Was ist nur aus mir geworden?

Blaue Flecken bedecken meine alabasterfarbene Haut, eingerahmt von roten Striemen. Die Blessuren haben fast etwas Ästhetisches, fällt mir ironisch lächelnd auf.

Ich betrachte mich weiter... was findet Henry nur an mir? In meinen Augen bin ich eigentlich recht durchschnittlich. Relativ groß, schlank, mit braunen, schulterlangen Haaren. Es gibt sicher einige Frauen wie mich...

Vor allem meine Brüste mag er gerne. Ich kann gar nicht nachvollziehen warum, weder sind sie besonders groß, noch irgendwie perfekt geformt.

Erneut fällt mein Blick auf meine geschundene Haut. Schon so oft stand ich hier, und habe mein mit Wunden übersätes Antlitz betrachtet. Jedes einzelne Mal habe ich das Gefühl, er hat sich ein weiteres Stückchen von mir genommen. Nein, nicht genommen - aus mir herausgebrochen.

Denn das, was ich im Spiegel sehe, ist eine gebrochene, schwache Frau, der man ihre Müdigkeit ansieht. Fast angewidert wende ich mich ab und stelle mich unter das heiße Wasser.

Gegen Abend kommt Henry wieder nach Hause und schenkt sich sofort einen Scotch ein. Er scheint sehr schlecht gelaunt zu sein und ich traue mich nicht nachzufragen, was denn los sei.

Auf das eine Glas folgt sogleich ein zweites, und dann noch ein drittes. Die Röte des Alkohols kriecht ihm langsam ins Gesicht, und auch sein Blick wird verwaschener. Mit jedem Schluck nimmt meine Anspannung zu - er ist unberechenbar, wenn er getrunken hat.

Hastig räume ich den Tisch ab, und da rutscht mir vor Hektik ein Teller aus der Hand. Sofort dreht Henry seinen Kopf zu mir, seine Augen verengen sich zu Schlitzen.

"Wie kann man denn so unglaublich ungeschickt sein wie du?! Nicht mal eine billige Küchenmagd kannst du ersetzen!"

Mit vor Schreck geweiteten Augen flüchte ich mich in Entschuldigungen, die er aber gar nicht hören will. Bedrohlich kommt er auf mich zu. Und zum ersten Mal ertrage ich nicht brav, was er mir antun will - sondern ich renne.

Weg von ihm, aus der Tür hinaus, zur Straße herunter. Ohne zu denken, ohne Tasche, Mantel oder Schuhe. Nur weg von hier, weg von ihm.

Während meiner Flucht höre ich noch sein wütendes Geschrei, aber der Alkohol macht ihn träge und so kann er mir nicht hinterher.

Immer noch in Panik renne ich die Straße herunter, das Adrenalin in meinen Venen. Ich bin geflohen.

Als ich endlich langsamer werde sehe ich eine Bar am Ende der Straße, hell erleuchtet als Kontrast zur Finsternis des Abends.

Ich glaube mich zu erinnern, bereits einmal hier gewesen zu sein, aber in der Dunkelheit bin ich mir nicht sicher. Ohne groß nachzudenken betrete ich das Gebäude.

Perfectly Shattered (girlxgirl)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt