„Du kennst doch den Neubaukomplex drei Straßen weiter, oder?", fragte meine Mutter. Als Antwort nickte ich und strich meine blonden Haare aus dem Gesicht. Ich wusste schon, worauf dieses Gespräch hinauslaufen würde. „Ich begleite dich dahin und stelle dir deinen ersten Kunden vor, die andere Familie lebt im selben Gebäude, ich gebe dir einfach die genaue Nummer." Damit zog sie sich ihre abgetragene Jacke an und ich folgte ihrem Beispiel.
Wir liefen fünf Minuten schweigend nebeneinander her. Es war frisch geworden, der Frühherbst fegte die farbenfrohen Blätter von den Bäumen und verteilte sie auf dem nassen Boden. Der Himmel war grau und dicke Wolken ballten sich zusammen. Hoffentlich würde es nicht anfangen mit regnen. Ich hatte keinen Schirm mitgenommen.
Plötzlich blieb meine Mutter stehen und ich richtete meinen Blick auf den riesigen dunkelgrauen Gebäudekomplex. Er verlief eckig und ich erkannte die aufwendige Säulenkonstruktion am Eingang. Das Haus hatte große Fenster und ich staunte nicht schlecht, als ich den Pool im Garten erkannte. Ich folgte meiner Mutter unauffällig. Sie schloss die Tür auf und wir traten in den Flur ein.
Der Eingangsbereich war dunkel gehalten und an der einen Wand erkannte ich den metallischen Fahrstuhl, der geschlossen war. Gegenüber des Fahrstuhls befand sich eine kleine unscheinbare Tür, die meine Mutter öffnete und einen Putzwagen herausholte. Sie schob den Wagen mit einer Hand zum Fahrstuhl und drückte dann auf den runden Knopf.
„Dein erster Kunde ist ein netter Mann im mittleren Alter, Herr Zauk. Er ist Fotograf und deshalb öfter für einige Wochen verreist. Zurzeit ist er jedoch hier. Er wird sicher ganz umgänglich sein. Du müsstest zweimal die Woche vorbeikommen, genauso wie bei deiner anderen Familie, den Catalanos. Am besten legst du dir das auf verschiedene Tage. Herr und Frau Catalano sind beide sehr beschäftigt, deshalb sind sie auch nur selten zuhause. Aber du wirst bestimmt ihre beiden Kinder kennenlernen."
Inzwischen waren wir in den Fahrstuhl eingestiegen und meine Mutter hielt eine weiße Karte vor den eingebauten Scanner, die sie mir dann überreichte. Es ertönte ein klingelndes Geräusch und sie drückte Nummer zwei.
Ich hoffte, dass ich mir all diese Informationen merken konnte. Zum Glück hatte mein Gehirn eine hohe Speicherkapazität.
„Hast du dein Handy dabei?", fragte ich.
„Ja, also wenn du Fragen hast, bin ich erreichbar. Familie Catalano findest du unter Nummer vier." Der Fahrstuhl kam zum stehen und die Türen öffneten sich. „Viel Glück und danke, dass du mir das abnimmst. Ich kann jetzt ins Büro gehen und meine Unterlagen sortieren", erklärte sie erleichtert.
Meine Mom umarmte mich kurz und ich verabschiedete mich. Dann schritt ich aus dem Fahrstuhl heraus in einen beleuchteten Flur. Ich schob den Wagen weiter vor mir her, sodass ich um eine Ecke herumlief. Plötzlich öffnete sich der Raum und riesige Fenster ließen das Zimmer hell und freundlich wirken.
In der einen Ecke war ein Computer aufgebaut. Hunderte Fotos lagen quer über dem Schreibtisch verteilt. Eine große weiße Leinwand bedeckte einen Teil der gegenüberliegenden Wand. Davor war ein Kamerastativ aufgebaut und Kabel lagen verheddert auf dem weichen Fußboden. Der Raum war hoch und an der Decke hing ein großer funkelnder Kronleuchter.
Anscheinend war ich hier in einem Fotoset gelandet.
Ich räusperte mich und fragte laut: „Hallo?"
Keine Sekunde später schaute ein zerzauster Lockenkopf aus dem Nebenzimmer. Der Mann trug eine locker sitzende Jeans und ein grünes Poloshirt. Eine eckige Brille umrahmte seine grünen Augen und die dunklen Locken fielen ihm ins Gesicht.
Er kam auf mich zu und setzte ein Lächeln auf. „Guten Tag, du bist dann anscheinend Roya? Lillien hat mir schon erzählt, dass du das Putzen hier übernehmen wirst. Ich habe damit kein Problem. Du müsstest nur auf mein Equipment aufpassen. Freut mich dich kennen zulernen."
„Mich auch, Herr Zauk." Ich lächelte ebenfalls, bevor ich in seine ausgestreckte Hand schüttelte.
„Oh tut mir leid, du kannst mich natürlich Andreas nennen. Komm mal mit, ich zeige dir die Wohnung."
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Nach zwei Stunden entließ mich Andreas. Seine Wohnung war wirklich schön. Dem großen offenen Wohnzimmer folgte eine kleine Küche- anscheinend bestellte er sich lieber Essen als selbst zu kochen- ein großes Bad und noch sein Schlafzimmer.
Zufrieden schob ich den Putzwagen in den Fahrstuhl, hielt die weiße Karte vor den elektrischen Scanner und drückte dann auf die vier.
Inzwischen war es schon siebzehn Uhr und ich sollte mich beeilen, um die zweite Wohnung heute noch zu schaffen. Die Fahrstuhltür öffnete sich und ich trat ebenfalls hinaus. Aber dieses mal stand ich mitten in der Küche- das komplette Gegenteil zu Andreas Wohnung. Die Küche war riesig und in warmen Farbtönen gehalten. Die Bodenfliesen waren dunkel und ich fühlte mich sofort wohl.
Ich bemerkte in meinen Blickwinkel, dass sich links von mir etwas bewegte. Ich drehte mich um und sah eine kleine Gestalt, die sich am Türrahmen festhielt. Mein Herz machte einen Satz, als ich das Mädchen anschaute.
Ihre langen schwarzen Haare waren in einem Zopf zusammen geflochten, ihre vollen rosa Lippen hatte sie zu einem verschmitzten Grinsen zusammengezogen und ihre ebenfalls blauen Augen schauten zu mir auf. Ich lächelte sie aufmunternd an.
„Bist du die neue Putzfrau?", fragte sie mit hoher Stimme.
„Ja, ich heiße Roya und wer bist du?"
„Carolin, und ich bin schon so alt." Dann streckte sie ihre kleinen Hände in die Höhe und zeigte mir fünf Finger.
„Das ist ja toll. Wo sind denn deine Eltern?", fragte ich verwundert.
Sie schaute mich mit ihren großen Augen an und faltete die Hände vor ihrem blauen Rock zusammen. „Die sind arbeiten und mein großer Brudi ist bei seinen Freunden. Aber Anna leistet mir Gesellschaft." Ich zog eine Augenbraue nach oben. Wer war bitte Anna?
„Anna?", fragte ich verwirrt.
Carolin rannte den langen Gang entlang und öffnete eine Tür. Ich folgte ihr langsam und betrat ein rosa und weiß gestrichenes Zimmer. Auf ihrem Himmelbett waren verschiedene Plüschtiere platziert. Ich musste bei dem Anblick lächeln. Carolin griff nach einer Puppe und streckte sie mir entgegen. Die Puppe hatte rote Haare und trug ein wunderschönes weißes Kleid.
Bewundert nahm ich ‚Anna' und bemerkte: „Sie ist wirklich hübsch." Carolin nickte daraufhin eifrig. Doch ich erinnerte mich, dass ich hier noch einiges putzen musste.
Deshalb fragte ich Carolin, ob sie mir eine exklusive Führung durch ihr Schloss geben konnte. Sie willigte sofort ein. Alle Zimmer waren hell, groß und familiär eingerichtet. Sie hatten sogar eine Bibliothek. Nur ein Raum war verschlossen.
„Mein Brudi schließt sein Reich immer ab. Da kommt niemand rein- außer er selbst", erklärte Carolin. Dabei verschränkte sie die Arme vor der Brust.
„Das ist nicht nett von ihm, nur weil ich mir einmal seine Unterhosen geklaut habe. Aber meinem Teddy war kalt und da war ein Superheld drauf, der mit dem Spinnennetz." Sie lächelte bei dem Gedanken. Meine Wangen erröteten, aber ich musste trotzdem lachen.
Die Kleine war eine Nummer für sich.
Doch letztendlich musste ich mich an die Arbeit machen. Carolin schaute mir die ersten Minuten in der Küche zu, aber dann verzog sie sich wieder in ihr Zimmer und redete mit Anna und ihrem Teddybären.
Während ich putzte, überlegte ich mir, wie traurig das eigentlich war. Wenn Carolin jeden Tag so verbrachte, musste sie viel allein sein. Das wünschte ich keinem Kind, dann bevorzugte ich doch lieber mit weniger Geld aufzuwachsen...
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Clean up for me, genius!
Teen FictionAls die schlagfertige Klassenbeste bei einem neuen Putzjob auf ihren italienischen Gorillagang-Mitschüler trifft, muss sie die Wahrscheinlichkeitsberechnung für ihre Zukunft optimieren, denn ihr Herz sagt plötzlich etwas anderes als ihr Verstand. ~~...
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