Alleine in einer Menschenmenge

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„Kommst du, Haley?", ruft mein Vater den Flur runter zu mir in die Küche. Die Sonne strahlte und der Himmel war knallblau. Keine einzige Wolke bedeckte den Sommerhimmel an diesem Tag im Juli. Mein Dad und ich wollten noch ein paar letzte Besorgungen für unsere Grillparty heute Abend machen. Im Garten hingen schon die Lichterketten und die Tische, sowie Bänke standen bereits. Aus der Anlage erkling das Lieblingslied von mir und meinem Vater und den letzten Salat hatte ich nun auch gerade fertig vorbereitet. „Klar, ich bin schon unterwegs zu dir". Wir stiegen ins Auto und ich drehte das Radio voll auf. „Ich liebe diesen Song", sagte ich mit einem großen Lächeln auf dem Gesicht. Der Tag schien schon fast zu perfekt um wahr zu sein. Es war die erste Grillparty, die wir gaben, nachdem meine Mutter vor 3 Jahren verstarb. Als das passierte kamen schwere Jahre auf uns zu. Es war eine echt harte Zeit, bis wir ein Stück weit wieder zurück zur Normalität kamen. Wir vermissen sie zwar noch immer, doch unser Leben geht weiter und das stellt die heute anstehende Party erstrecht unter Beweis. Früher gaben wir diese Partys jeden Sommer. Meine Mutter liebte die Vorbereitung, das Dekorieren, die Gemeinschaft und das Singen am Lagerfeuer. In diesen Abenden steckte so viel Freude, die mit dem Tod meiner Mutter einfach verschwand. Heute jedoch würde diese Freude endlich wieder aufkommen. Klar ist das ein großer Schritt für meinen Vater und mich und es wird wohl in dem einen oder anderem Moment auch emotional für uns, doch davon wollen wir uns diesen wundervollen Tag nicht verderben lassen. Ich steckte in den letzten Tagen so viel Arbeit in die Planung und Organisation. Es war für viele nur eine einfache Grillparty, doch für meinen Vater und mich war das ein offizieller Neustart und dieser musste einfach perfekt sein. „Mom wäre so stolz auf dich", sagte mein Vater mit offensichtlichen Tränen in den Augen. „Das hoffe ich wirklich sehr." Ich sah hinunter auf meine Schuhe und mir schossen sofort Erinnerungen von der letzten Party in den Kopf. Das war das letzte Mal, als ich meine Mutter so richtig lächeln sah, da es für sie nur wenige Tage später gesundheitlich immer weiter bergab ging. Ich schaute wieder hinaus aus dem Fenster, in der Versuchung dem Gedankenstrom zu entkommen. Es war kein weiter Weg, bis zum Einkaufszentrum. Müssten wir nicht den Einkauf schleppen, dann würden wir sogar zu Fuß gehen können. Wir kamen an und stiegen aus dem Geländewagen meines Vaters aus. Wie an jedem Freitagnachmittag war der Parkplatz komplett überfüllt, da wir natürlich nicht die einzigen waren, die noch letzte Besorgungen für das Wochenende machten. Auf dem Weg in den Laden kam uns eine Frau entgegen. Sie lächelte meinen Vater an und er guckte sofort weg, als hätte er einen Geist gesehen. „Kennst du diese Frau etwa?", fragte ich ihn. „Nein, alles gut. Ich habe mich nur gewundert, warum sie mich so angelächelt hat, aber vermutlich meinte sie nicht mal mich." Also nahmen wir uns einen Einkaufswagen und schlenderten durch die Gänge. Wir packten noch ein paar Snacks und Getränke ein und gingen an die Kasse um zu bezahlten. Vor uns an der Kasse war eine meiner Mitschülerinnen. Sie schaute kurz zu mir rüber, lächelte schüchtern und guckte ängstlich weg. Es lag nicht daran, dass sie schüchtern war. Nein, sie hatte vermutlich Angst vor mir. Verständlicher Weise, denn an jeden anderen Tag hätte ich sie wahrscheinlich darauf hingewiesen, wie wenig ihr dieses Outfit steht. Es war wirklich schrecklich und geschmackslos. Doch nicht heute. Heute hatte ich für sowas keinen Kopf. Sie packte ihre Sachen schnell in ihre Tasche und ging davon. Als wir schließlich auch bezahlten und zurück zum Auto gingen, hörte ich jemanden meinen Namen rufen. „Haley! Hier drüben!" Es war meine beste Freundin Alice. „Hey. Was ein Zufall dich hier zu treffen", sagte sie. „Zufall? Am Tag unserer Gartenparty ist es wohl sehr wahrscheinlich, mich hier noch zu treffen, nicht wahr?", antwortete ich nur. „Ja, stimmt. Ich freue mich schon so sehr. In 2 Stunden geht es los. Kommt Ivan auch?" „Selbstverständlich kommt Ivan auch. Er meinte sogar, er hätte noch eine Überraschung für mich." Alice hörte mir jedoch gar nicht erst zu Ende zu. Ihr Handy vibrierte nur und sie wirbelte mich mit einem „Ich muss los, bis später" einfach so ab. Ich rief ihr nur noch ein „Ja ich auch, bis später!" zu und stieg zu meinen Vater ein. „Ivan kommt also doch?", fragte mich mein Vater. Er wusste, dass er vor wenigen Tagen abgesagt hatte, weil er meinte, dass er seinem Vater noch in der Firma helfen müsste. „Natürlich kommt er. Er findet schon einen Weg. Schließlich weiß er, wie wichtig das für mich ist. Da wird er mich wohl kaum einfach so sitzen lassen", antwortete ich, während ich auf mein Handy guckte, in der Hoffnung auf neue Nachrichten. Aber nein. Nichts. Keine neuen Nachrichten, keine verpassten Anrufe, nur ein paar Benachrichtigungen von Instagram. Zuhause angekommen bereiteten wir auch die letzten Kleinigkeiten fertig vor, bis es nur noch eine halbe Stunde bis zur Party war. „Ich mach schon mal den Grill an", rief mein Vater aus dem Garten. „Ja, mach das. Ich telefoniere nur ganz kurz.", antwortete ich ihm und ging in die Küche. Ich rief Ivan an. Da keiner ranging, schickte ich ihm eine Nachricht. Ich hoffe wirklich sehr, dass du irgendwie doch einen Weg findest zu kommen. Du würdest nicht nur krass viel verpassen, sondern mich auch einfach so alleine lassen, an einen solch wichtigen Tag. Er ließ die Nachricht bereits keine 5 Minuten später und antwortete nur mit Ich versuche mein bestes, hier so früh wie möglich rauszukommen, aber ich kann dir nichts versprechen. Da klingelte es auch schon an der Tür. Die ersten Gäste kamen bereits. Es war Brian, der beste Freund meines Vaters mit seiner Familie. Pünktlichkeit ist eigentlich nicht so wirklich sein Ding, doch er begleitete uns durch die ganzen letzten Jahre und wollte nun keine Sekunde dieses Festes verpassen. „Schön, dass ihr gekommen seid", sagte mein Vater und begrüßte alle recht herzlich mit einer Umarmung. Mein Vater war heute so fröhlich. Es kam mir ganz so vor, als würde Mom hier sein und wie damals alles zum strahlen bringen. „Ist doch selbstverständlich, dass wir kommen", sagte Brian und sie gingen in den Garten. Stück für Stück kamen immer mehr Leute und schon bald waren vor unserem Haus überall Autos. Ich lud all meine Freunde, unsere gesamte Familie, die ganze Nachbarschaft, Angestellte meines Vaters und auch meine Familie mütterlicher Seite ein. Alice und meine andere enge Freundin Selena waren mittlerweile auch da und hatten es sich auf den Liegen vor unserem Pool gemütlich gemacht. Unser Anwesen war nicht gerade klein. Wir hatten ehrlich gesagt echt viel Geld, da meinem Vater eine der größten Logistikfirmen in der Gegend gehörte. „Und wo ist Ivan?", fragte Selena mich, als würde sie wissen, dass er nicht kommt. „Er kommt etwas später. Er muss seinem Vater noch in der Firma helfen." Ich wendete meinen Blick von den beiden ab, als mein Vater sich gerade ans Lagerfeuer stellte und mit einem Löffel gegen sein Glas klimperte. „Dürfte ich kurz um eure Aufmerksamkeit bitten?", rief er in die Menge und es wurde sofort still. „Ich würde gerne ein paar Worte sagen, die mir sehr am Herzen liegen. Erst einmal danke ich euch, dass ihr alle so vielzählig erschienen seid. Das freut mich wirklich sehr. Nun ja. Erinnern wir uns zurück an die erste Grillparty, die wir vor 8 Jahren gaben. Sie entstand spontan aus einem netten Beisammensein von Freunden und wurde schließendlich doch größer, als erwartet. Ich erinnere mich gerne an diesen verrückten Tag zurück. Im Jahr darauf wiederholten wir dies, nur dieses Mal richtig durchgeplant. So wie es eben typisch für Emily war. Es wurde zu einer Tradition, bis vor 3 Jahren alles seinen Lauf nahm. Wir mussten uns nicht nur von den Feiern verabschieden. Wenn es doch nur das wäre..." Ihm stockte der Atem und ihm kamen Tränen in die Augen. Brian wollte zu ihm gehen, doch er schüttelte den Kopf und sprach weiter: „Nein, wir mussten uns auch von meiner wunderbaren Frau Emily verabschieden. Von einer wunderbaren Mutter, einer immer lächelnden Frau, die einen immer ebenfalls zum strahlen brachte. Ich brauchte lange, um das alles zu verkraften und auch wenn es seine Zeit brauchte, bin ich sehr stolz auf meine Tochter und mich, dass wir heute hier stehen können und die Trauer überwunden haben. Sie fehlt uns noch immer, aber wir können damit mittlerweile gut umgehen. Und nun lasst uns anstoßen." Er hielt sein Glas hoch. „Auf Emily!" „Auf Emily!", antworteten alle anderen. Ich fühlte mich plötzlich so alleine, aber doch so umgeben. So schwach, aber doch so unfassbar stark. So enttäuscht, aber doch so stolz. „Alles gut?", fragte Alice mich und legte ihre Hand auf meine Schulter. „Klar ist alles gut. Was soll schon sein? Lass uns feiern!" Ich stand auf und wippte zur Musik. Ich war verdammt gut darin so zu tun, als wäre alles okay. Ich hatte allerdings wohl mehr als genug Übung darin. Die Zeit verflog wie im Wind und es wurde mittlerweile schon dunkel. Von Ivan war weit und breit keine Spur. Viele meiner Freunde, unter anderem auch Alice und Selena hielten es für eine gute Idee Alkohol zu konsumieren und so ging die Party erst richtig los. Ich machte meine Partyplaylist und die bunten Lichterketten an. Leute sprangen in den Pool und der Abend verlief wie geschmiert. Plötzlich ertönte ein Lauter Knall. Das Geräusch eines Schusses. Niemand beachtete das Geräusch so wirklich, doch es hörte sich für mich so nah an. Ich ging zu den Leuten, bei denen sich mein Vater eben noch gestanden hat. „Wo ist Dad?" „Der wollte kurz ins Bad", antwortete einer seiner Freunde. Ich ging also ins Haus, den Flur runter zum Badezimmer. „Dad?" Ich klopfte gegen die Tür. Keine Antwort. Ohne weiter nachzudenken öffnete ich die Tür. Und da- da- Da lag er. Umgeben von Blut. Neben seiner Hand eine Schusswaffe. Ich schrie. Ich schrie so laut wie nie zuvor. „Nein! Papa! Nein! HILFE!!!" Sofort kamen zwei Leute rein, von denen ich nicht mal wusste, wer es war. Die Situation erklärte sich für die beiden schnell selbst und einer von ihnen rief einen Krankenwagen. Der andere von ihnen versuchte mich zu beruhigen. Das konnte nicht real sein. Nein. Er war so glücklich. Was soll denn in den paar Stunden passiert sein, was ihn zu so etwas treiben würde? Ich zitterte am ganzen Körper. Vor Tränen konnte ich nichts mehr erkennen. Ich fühlte mich wie gelähmt. Als hätte man mir soeben alles genommen, was ich je hatte. Der Krankenwagen kam und jeder bekam auch trotz seines Alkoholrausches mit, was hier gerade passierte. Jeder wollte nach mir sehen und mich fragen, wie es mir geht oder was passiert sei, doch das war wirklich das letzte, was ich jetzt brauchte. Ich war ganz alleine in einer Menge von Menschen. Ganz einsam in einer Gemeinschaft. Niemand konnte gerade das nachempfinden, was ich fühlte. Niemand hatte auch nur den Hauch einer Ahnung, was ich fühlte oder was sich gerade in meinem Kopf abspielte. „Vielleicht geschieht ja ein Wunder und er überlebt", hörte ich jemanden neben mir sagen. Ich brach mein Schweigen: „Du hast ihn nicht gesehen! Du hast nicht gesehen, wie er da lag. In all dem Blut. Du hast gar keine Ahnung. Ihr alle habt nicht den Hauch einer Ahnung. Er hatte keinen Puls. Er ist tot. Keiner von euch hat den Schuss beachtet. Keinen von euch allen hat es auch nur ansatzweise interessiert, wo auf einmal dieses Geräusch eines Schusses herkam." Ich schloss die von Tränen durchströmten Augen. Keiner sagte mehr irgendetwas. Es war wohl für niemanden eine einfache Situation, doch das war das letzte, wofür ich einen Kopf hatte. Eine weitere Stunde verging und die Nachricht, dass er es leider nicht geschafft hat breitete eine weitere Welle der Trauer im Raum aus. Die Leute gingen langsam nach Hause, nachdem sie mir nochmal ihr herzliches Beileid aussprachen. Irgendwann waren es nur noch Brian und ich. „Soll ich hier bleiben?", fragte er mich vorsichtig. „Nein. Geh. Geh zu deiner Familie. Die brauchen dich gerade genauso sehr, wie ich, wenn nicht sogar noch mehr", sagte ich. Ich saß auf der Couch und sah nach draußen. Die Sterne leuchteten am klaren Himmel und die Lichter in den Häusern waren ausgeschaltet. „Bist du sicher, dass du alleine klarkommst? ", fragte er nochmal nach. Er wollte sich nicht aufdrängen, aber mich auch ungerne alleine lassen. Ich konnte ihn natürlich verstehen, aber ich wollte gerade einfach nur alleine sein. Eher gesagt wollte ich gerade bei meinen Eltern sein, aber das wäre jetzt nie mehr möglich. „Klar. Ich brauche jetzt erst einmal Ruhe", sagte ich und er verabschiedete sich und ging. Ich hätte jetzt niemanden mehr. Klar, sind da meine Freunde und Verwandte, doch nichts und niemand auf dieser Welt würde meine Eltern je ersetzen können. Denn auch, wenn da andere Leute sind, die eine Rolle in meinem Leben spielen, ist da niemand, der mich liebt. Bedingungslos liebt, egal was ich mache. Ganz egal, was passiert. Damit, dass meine Mutter gestorben ist konnte ich mit der Zeit umgehen, aber meinen Vater jetzt auch noch zu verlieren, war ein komplettes Gefühl der Einsamkeit. Ich weinte den ganzen restlichen Abend. Die ganze Nacht lang. Die Zeit stand still. Ich hatte keine Vorstellung davon, was meinen Vater dazu treiben konnte, sich das Leben zu nehmen. Was ihn dazu treiben konnte, mich alleine zu lassen. Wie konnte er nur? Es waren alle möglichen Gefühle und Gedanken, die mich in dieser Nacht wachhielten. Es war nicht nur die Trauer, sondern auch Wut. Wut auf meinen Vater, Wut auf alle, die ihn dazu getrieben haben und Wut auf mich selbst. Der Gedanke, dass ich besser auf ihn aufpassen hätte sollen, nachdem Mom von uns gegangen ist ging mir nicht aus dem Kopf. Hab ich vielleicht zu sehr an mich selbst gedacht? Aber die Frage, die mich am meisten wachhielt war die, warum er es tat. War es wegen Mom? War das doch zu viel auf einmal? Aber das erschien mir so unwahrscheinlich. Ich schaute aus dem Fenster. Es regnete. Es regnete in Strömen. Ich ging raus und stellte mich in den Garten. Der Regen durchnässte meine Kleidung, doch es fühlte sich an, als würde er eine Last von mir runterspülen. Der Regen war warm. Es war generell sehr warm draußen. Ich fühlte gar nichts, doch genau das tat noch mehr weh, als jede Art von Trauer, die ich je zuvor spürte. Dieses Gefühl, als würdest du vor einer Mauer stehen, aber müsstest trotzdem weiterlaufen. Es geht nicht weiter, aber du kannst nicht stehen bleiben. Und da ist nichts anderes. Nur du und diese Mauer. Niemand, der dich aufhält oder sich um dich kümmert. Niemand, der dich liebt. Genau dieses Gefühl war die ganze Zeit da. Ich konnte und wollte nicht schlafen. Ich wollte nicht schlafen, mit dem Wissen, keine Eltern mehr zu haben. Ich guckte auf die Uhr. Es war gerade 5 Uhr in der Nacht und die Sonne ging gerade auf. Die Sonne, sie ging wieder auf und brachte alles zum erleuchten. Kinder würden mit ihren Eltern lachen und spielen und ich...Ich weiß es noch nicht genau. Ich weiß gerade gar nichts so genau.

Nichts bedeutet so viel mehrWo Geschichten leben. Entdecke jetzt