Ein beschissener Tag

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Ich bin unglaublich wütend! Am liebsten würde ich irgendetwas kaputt machen. Nein! Am liebsten würde ich ganz vieles kaputt machen, zerkleinern, auseinanderreissen, für immer zerstören. Aber ich tue es nicht. Stattdessen stampfe ich beim Gehen extra fest auf den Boden und lasse meinen Atem in abgehackten Stössen aus meiner Lunge entfliehen. Ich lebe den Stressatem, will mich nicht beruhigen.... Was für ein beschissener Tag. Scheisse! Ich muss immer noch etwas kaputt machen. Stattdessen beschleunige ich meine Schritte, renne jetzt fast. Ich will nur noch weit weg. Ich biege um die nächste Ecke und bleibe ruckartig stehen. Vor mir an der Wand lehnt er. Ich erkenne ihn sofort. Der Alptraum meiner Träume und für heute das Ventil meiner riesigen Wut.

 "Was machst DU denn hier!"

 Ich lache. Es klingt wie zerbrechendes Glas. Ist mir egal, was er von mir denkt. Ist es mir wirklich egal, was andere von mir denken? Ach egal. Egal!

Er schaut auf. Überrascht, verwirrt und vielleicht ein bisschen genervt. Aber das interessiert mich nicht. Ich bin auch genervt. Nein ich bin wütend. Stinkwütend! Auf alle. Auf die ganze Menschheit. Auf diesen grossen Jungen, der an einer grauen Wand hängt und eine Zigarette raucht. Auf diesen Jungen, der nichts dafür kann für das, was passiert ist, der einfach nur zur falschen Zeit am falschen Ort ist. Oder vielleicht ist er auch zur richtigen Zeit am richtigen Ort. Was weiss ich schon? 

"Kennen wir uns?"

Sein Blick ist jetzt abwesend. Er schaut über mich hinweg. Er spricht mit mir aber behandelt mich wie Luft. Ich lache nur noch lauter. Es ist ein freudloses Lachen. Nein wir kennen uns nicht. Ich kenne dich!

"Du bist der, der sein Wort bricht. Der nett, emphatisch und interessiert ist aber sein wirkliches Ich hinter einer Mauer versteckt. Der, der Gefühle an und abschaltet. Aber das funktioniert im wahren Leben nicht!  Es holt dich wieder ein. Alles, was du verdrängst, holt dich eines Tages ein."

Ich keuche. Mein Kopf fühlt sich so klar an meine Lunge jedoch brennt, bittet um Sauerstoff. Ich lasse mich zu Boden gleiten. Der Rauch seiner Kippe weht mir ins Gesicht. Er schaut mich an. Jetzt aufmerksamer. Seine Augen gleiten suchend über meine Gesichtszüge. Er bleibt still. Ich lache wieder. Am Ende verwandelt es sich in ein Husten, weil der Rauch um mein Gesicht wirbelt und in meine Lunge dringt. Ungebeten. 

"Kannst du bitte die Kippe ausmachen! Ich ersticke!"

Er nimmt einen letzten Zug und schmeisst sie zu Boden. Die Kippe landet direkt vor meinen Füssen. 

"Sorry"

 Er hebt sie hoch und spickt sie mit seinem Mittelfinger und Daumen in die andere Richtung, weit weg von meinen blauen Converse, die die Farbe meiner Augen haben. Er sieht mir wieder ins Gesicht und plötzlich leuchtet Verständnis in seinen Augen auf. 

"Du redest nicht von mir! Wir kennen uns nämlich gar nicht. Du hast eine Lebenskrise und lässt es an dem Erstbesten raus, den du siehst. Findest du das nicht ein bisschen asozial?»

Jetzt ist er es, der lacht. Es ist ein lautes Lachen. Ich beisse fest auf meine Zähne. Er sieht es und  nur noch lauter, lässt sich langsam vor Lacher geschüttelt neben mich auf den Boden gleiten. 

«Ist das wirklich deine Sicht auf die Menschen? Dass sie Gefühle an und abschalten? Bei allem andern muss ich dir nur zustimmen. Aber wir sind doch keine Maschinen!"

 Er gluckst vor Lachen. 

" Ach halt doch die Klappe! 

Was für ein Arschloch, murmle ich. Sofort hört er auf zu lachen, schaut mich wieder aufmerksam an. 

 "Warum bist du so wütend?"

 Ich schüttle den Kopf und löse den Blick von seinem Gesicht. Ich schaue an die Mauer auf der anderen Seite der Strasse. Ein Graffiti ziert einen Teil davon. Ich nehme nicht war, was es darstellt.

 "Ich bin eigentlich gar nicht wütend auf dich!", gebe ich zu. " Ich glaube, du hast einfach etwas an dir, was mich zwingt meiner Wut freien Lauf zu lassen. Vielleicht ist es dein Hundeblick. Ich hasse Hunde." 

 An dieser Stelle schmunzelt er und ich muss mir auf die Lippen beissen, um es ihm nicht gleich zu tun. 

"Du hasst Hunde? Ist das dein Ernst? Jeder liebt Hunde!"

Er schaut mich mit so einem ungläubigen Blick an, das ich ein kleines Lächeln nicht unterdrücken kann. Scheisse. Wo ist meine Wut geblieben? Sein Blick liegt immer noch auf meinem Gesicht.

 "Du bist ganz rot im Gesicht? Bist du gerannt, Kleine?" wechselt er das Thema. 

"Nenn mich nicht Kleine! Ich habe einen Namen!"

 "Und wie ist dein Name, Zwerglein?"

 Ich werfe ihm einen bitterbösen Blick zu, doch er zuckt nur mit den Schultern und grinst mich frech an. 

" Du darfst mich gerne "verehrte Hoheit" nennen!"

 Der grosse Junge zuckt mit den Schultern. 

"Dann halt nicht. Bist du immer noch wütend, Namenlos?" Pause, Pause, Pause. 

Ich erlaube mir ein arrogantes Lächeln, sage jedoch nichts. Bin ich noch wütend? Ich sehe ihr Gesicht vor meinen Augen. Der entschuldigende Blick und das Foto. Ich fühle diese Leere in meinem Herzen, die sie hinterlassen hat.

 "Ich denke schon, denn dein Gesicht ist immer noch ganz rot. Und wenn du nicht gerannt bist, ist es vielleicht wegen deiner Wut?"

 Der grosse Junge mit den schwarzen wilden Haaren und den braunen Augen stupst mich auf die Wange. Das Gesicht verschwindet vor meinen Augen aber die Stimme bleibt. Ich muss sie loswerden. Ich muss wieder klar denken können. Plötzlich ist es mir total peinlich, dass ich so ausgerastet bin. Ich krieg das hin. Ich bin stark und ich bin es gewohnt, alleine zu sein. Warum also bin ich so aufgebracht? Langsam drehe ich meinen Kopf wieder zu meinem menschlichen Wutventil. 

"Ja ich bin noch wütend. Ich werde noch lange wütend sein aber für einen Moment möchte ich das einfach vergessen. Hilfst du mir dabei?"

Das ist die dümmste Idee, die ich jemals hatte. ER ist es! Seine Augen werden fragend und kurz zweifelnd öffnet er seine Lippen ohne etwas zu sagen. 

"Mein Bruder ist im Einsatz. Syrien. Meine Mutter fällt dann immer in eine depressive Phase und mein Vater ist total gestresst. Ich halte es manchmal nicht aus, sie so zu sehen, dann komm ich hier her und rauche ein paar Kippe, hänge rum und warte, bis es zu spät wird, um nach Hause zu gehen, dann penne ich bei einem Kumpel. Eigentlich rauche ich nicht."

 Er sieht mich immer noch an. Sein Blick ist offen und ich sehe die Traurigkeit darin. Kurz zweifle ich, doch dann lehne ich mich mutig in seine Richtung. Vielleicht finde ich ja heraus, was an ihm so Besonders ist. Und ich denke, ich habe alles Recht zu erwarten, dass er mir hilft, mich abzulenken. 

"Lass uns all diesen Scheiss für einen Moment vergessen, ok? Lass uns einfach "Namenlos" und "Ich rauche nicht" sein."

 Ich streiche mit meiner Hand über seine Wange. Sie fühlt sich rau an unter meinen Fingerspitzen. Seine Augen werden gross, als er begreift, was ich vorhabe, doch er wehrt sich nicht. 

" Sag mir deinen Namen", flüstert er, als meine Lippen schon fast seine berühren, die Augen geschlossen. Sanft streicht sein Mund über meinen. Ich verschlucke meinen Atem und kann fast nicht sprechen. 

"Smilla. Ich heisse Smilla."

 "Smilla", haucht er an meiner Haut und dann küsst er mich. Oder vielleicht küssen wir uns auch gleichzeitig. Ich weiss es nicht aber die Stimme verblasst immer mehr in meinem Kopf, bis nur noch ein leises Echo bleibt. Das einzige, was zählt, ist er. Dieser Mann, dessen Namen ich vergessen hatte, obwohl er eigentlich so wichtig war. Jetzt fällt er mir wieder ein, während er mein Gesicht in seine Hände nimmt und sanft mit meiner Zunge spielt. Sein Name ist Jay. Jay, Jay, Jay... Und immer wieder Jay......

Wie das Leben halt so dreht....Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt