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Ich habe in meinem Leben schon viele blöde Dinge gemacht, deshalb fällt mein Kuss mit Jay nicht weiter auf. Und trotzdem gibt es daran etwas, was mich stört. Ich habe wortwörtlich hormongesteuert reagiert. Ich habe gedacht, dass ich meiner Gefühle im Griff habe und nicht mehr so impulsiv handle. Falsch gedacht. Scheinbar bin ich doch so unbelehrbar, wie alle sagen. Wie mein Vater immer sagte, als er noch gelebt hat.
"Smilla, da hast du dir mal wieder nichts überlegt. Was soll ich nur mit dir machen?"
Dass ich mir in solchen Situationen nichts überlege, stimmt meist aber gar nicht. Ich handle einfach nicht danach. Das ist ein Unterschied. Aber das hat mein Vater nicht verstanden und dementsprechend auch nichts mit mir gemacht. Aber an diesem Abend mit Jay, ja, da habe ich nicht nachgedacht. Ich habe einfach gehandelt, weil ich vergessen wollte. Und das ist gefährlich. Das weiss ich. Ich bin schon zwei Mal im Spital aufgewacht. Mit Alkohol im Blut, mit dem ich meine eigene Bar aufmachen könnte, weil ich am Abend davor vergessen wollte. Aber es nützt nur temporär. Wie ich gestern zu diesem Mexikaner sagte:
"Alkohol löscht diesen inneren Brand nicht."
Aber ich verstehe ihn. Celine muss ihm viel bedeuten. Wie kann er dann diesen Schock, diesen Schmerz nicht einen Moment vergessen wollen?
Trotzdem oder gerade deswegen war dieser Besuch gestern ein riesiger Reinfall. Ich habe nichts Neues erfahren und für Carlos wäre es vielleicht besser gewesen, wenn er gedacht hätte, Celine würde gesund und munter in ihrem Zimmer hocken. Oder so gesund und munter man eben ist, wenn man in der Klinik fest sitzt. Jetzt macht er sich Sorgen und das ist meine Schuld.
Ich bin endlich angekommen und öffne die schwere Tür. Dieser Geruch! Er schlägt mir sofort entgegen, als ich in den Eingangsbereich trete. Ich kenne ihn. Ich kenne ihn so gut. Er ist mir vertraut und doch fremd, denn es ist nicht mehr so, wie es einmal war. In gewissen Bereichen bin ich froh über diese unveränderliche Tatsache. Aber nicht jetzt. Nicht hier! Ich möchte , dass es so wie früher ist. Ich möchte zurück zu der Zeit, als ich mich noch nicht ganz so hilflos und einsam gefühlt habe.
Ich gehe nicht zum Empfangstresen. Dass muss ich nicht. Sie kennen mich hier. Also laufe ich direkt durch den grünen Gang bis zum Lift, hoch in den ersten Stock und dann noch weiter durch Gänge und Türen. Bis ich vor seiner stehen bleibe. Es fühlt sich seltsam an, hier zu stehen. Ich sollte an dieser Tür vorbei gehen, noch zwei weitere und an der dritten klopfen, eintreten und sie schliessen. Und mit ihr ein Teil meiner Sorgen aussperren. Aber das tue ich nicht. Ich würde so schrecklich gerne aber es geht nicht, also klopfe ich hier und warte, bis sich diese Türe öffnet und ich hoffentlich, hoffentlich Antworten finde.
Mein Herz klopft und meine Hände sind feucht. Aber das ist normal. Kein Grund zur Sorge. Ich bin seit Tagen in diesem Zustand der Daueranspannung und Nervosität, manchmal unterbrochen von impulsiven Wutattacken und daraus resultierenden unüberlegten Handlungen, wie der Kuss mit Jay. Aber ich habe alles vergessen können. Für einen Moment habe ich mich leicht gefühlt und ,ja, fast glücklich. Vielleicht sollte ich ihn suchen und dieses Gefühl noch einmal fühlen? Oder lieber nicht? Nein! Vielleicht lieber nicht! Dieses Mal würde er mich erkennen und ich will nicht, dass er das tut.
"Hey, Smilla, komm doch rein!"
Christo steht vor mir. In Pyjama und einem roten Tuch um den Kopf gebunden. Vorne an der Stirn stehlen sich ein paar nasse Strähnen seines langen blonden Haares hervor und kräuseln sich an den Enden. Er lächelt mich an und ich sehe die Zahnlücke, die sein Gesicht so einzigartig macht. Sie ist nicht zwischen den beiden Schneidezähnen, sondern einen Zahn nach rechts verschoben. Ich trete ein und umarme ihn. Normalerweise bin ich nicht der Mensch für grosse Zärtlichkeiten aber wir haben uns schon lange nicht mehr gesehen und Christo und ich haben schon viel zusammen erlebt. Er ist wohl die einzige Konstante in meinem Leben geblieben. Im Moment zumindest. Aber ich würde ihn trotzdem nicht als einen guten Freund bezeichnen. Dazu stehen wir an andern Orten im Leben, dazu ist zu viel passiert. Aber ich hoffe trotz allem, dass er mir helfen kann.
"Smilla, wie geht es dir? Du siehst blass aus. Hast du schlecht geschlafen?"
Er streichelt mir über den Kopf und tätschelt mir die Wange, ein besorgter Ausdruck im Gesicht.
"Ach Christo, du weisst doch, warum ich hier bin."
"Ja, bitte entschuldige meine blöde Frage. Willst du einen Tee?"
Er zeigt mit seiner Hand auf eine Sitzecke am Fenster und auf den Tisch, auf dem ein dampfender Teekrug steht. Ich habe eigentlich keine Lust auf Smalltalk und Tee aber ich will ihn nicht beleidigen als nicke ich nur und setze mich auf einen Sessel. Er setzt sich mir gegenüber und schenkt mir Tee ein. Seine Hände zittern und er schnauft dabei. Christo sieht mich an und legt los.
"Du dumme Kuh, Arschloch, willst du Zucker, Schlampe?"
Er zittert noch mehr und übergiesst seine rechte Hand mit Tee. Ich nehme ihm den Krug aus der Hand.
"Gerne, Christo, zwei Stück bitte!"
Christo gibt sich Mühe die Würfel in meinen Tee zu geben aber kann ein paar Flüche dabei nicht unterdrücken.
"Scheisse, Bär, Luchs, Wau, Wau, Fuck, Fuck."
Er sieht mich entschuldigend an.
"Smilla, du bist wegen Celine hier, der Schlange, Nein, Scheisse. "
Er schlägt sich die Hand vor den Mund und beisst darauf. Christo atmet drei Mal tief ein und aus und beruhigt sich wieder. Er sieht mich mit entschuldigenden und auch beschämten Blick an und trinkt einen Schluck Tee.
"Keine Sorge, du bist aufgeregt, weil ich hier bin. Ich weiss doch, dass es dir viel besser geht. Weisst du, du siehst gut aus! Erholt! Bald bist du draussen und kannst wieder arbeiten gehen."
"Ja, danke, Smilla!"
Ich lächle ihn an. Er hat mich beleidigt und geflucht aber ich bin ihm nicht böse. Ich habe verstanden, dass er dafür nichts kann, dass ihn diese Anfälle einfach überkommen. Christo ist ansonsten sehr kultiviert und fast schon zu freundlich, obwohl er es immer auch so meint. Er leidet einfach am Tourette-Syndrom. Das war nicht immer so. Ich habe es nicht schon immer verstanden, wenn er so geflucht hat. Aber das ist lange her. Und ich will auch nicht an die Zeit denken. Schnell lenke ich meine Gedanken zurück zu meiner Hoffnung, dass Christo mir helfen kann.
"Hast du was von ihr gehört? Weisst du, wo sie ist?"
Ich kann nicht mehr länger Smalltalk reden. Ich muss es wissen. Christo zögert.
" Sag es mir!"
" Ich kann dir nicht sagen, was du hören willst, Smilla."
" Was meinst du damit?"
" Ich weiss nicht, wo sie ist, Smilla. Das willst du nicht hören. Und das zweite, was du nicht hören willst, ist...", er schweigt kurz, atmet tief durch und fasst neuen Mut. Ich will es wirklich nicht hören. In mir zieht sich alle zusammen.
" Smilla, du hast ihren Brief gelesen. Lass sie gehen!"
Und es explodiert. Ich springe auf und verlasse das Zimmer ohne ein weiteres Wort zu sagen. Ich renne durch die grünen Gänge und durch die Eingangstür nach draussen. Dass Christo mir hinterherschreit, nehme ich nicht wahr. Ich will einfach nur weg von hier. Weg von diesem verdammten Ort, der mich so sehr an Celine erinnert und weg von Christo, der einfach nicht mehr der Freund sein kann, der er einmal für mich war. Ich will weg von der Erinnerung an ein kleines Geschöpf, dass in meinen Armen lag und mich mit grossen Augen angesehen hat, weg von dem Schmerz, den diese Erinnerung in mir auslöst. Tränen laufen mir übers Gesicht. Ich wische sie nicht weg, sondern laufe immer weiter über die Strasse Richtung Wald und noch weiter, nur weiter, nur weg. Ich laufe und laufe so lange, bis ich auf dem weichen Waldboden zusammenbreche und einen zerknittertes Papier aus der Tasche ziehe. Ich atme tief durch, wische mir jetzt endlich die Tränen aus den Augen, putze meine verrotzte Nase und öffne Celines Brief.
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Wie das Leben halt so dreht....
Misterio / SuspensoVon einer jungen Frau, die alles verloren hat. Von einem Herzensbrecher, dessen eigenes Herz in tausend Stücke zersplittert ist. Von einem mexikanischen Immigranten in einem fremden Land. Von einem Mädchen, das spurlos verschwunden ist. Und wie da...