Es ist nicht allzu spät, es ist gerade mal kurz vor eins am Morgen und ich bin hellwach. Erleuchtet von den Straßenlaternen, wachgerüttelt von den Autos, die mit 80 km/h durch die 30er-Zone brettern. Und da schrie auch noch das Nachbarskind, von dem ich seit geraumer Zeit weiß, dass es dort genauso wenig schlafen kann wie ich gerade. Aber die Gründe scheinen sich doch zu unterscheiden. Das Nachbarskind ist vielleicht 11 oder 12 Jahre alt. Er lebt länger hier als ich mit seiner Mutter und einem Kater namens Klecks. Immer wieder ruft seine Mutter den Namen des Katers, wenn er ausbüxt. Dabei sitzt der Kater seelenruhig auf der Fensterbank in der Küche und starrt hinaus. Oftmals, wie in diesem Augenblick, schaue ich aus dem Fenster und ertappe mich dabei, wie ich wieder zum Küchenfensters des Nachbarsjungen schaue und seine Mutter dabei erwische, wie sie völlig verwirrt und panisch ihre Jacke anzieht und sich nach draußen begibt. Sie trägt ihre auffällige, gelbe Regenjacke, obwohl die Temperatur angenehme 20°C anzeigt. Kurz spielte ich mit dem Gedanken mein Fenster zu öffnen und nach dem Rechten zu schauen, doch ich ließ es aus irgendeinem Grund sein. Die noch recht junge Dame, mit ihren geschätzten 40 Jahren, setzte sich auf die Mauer, die vor dem großen, grauen Haus stand. Daneben ragte eine bläuliche Bushaltestellenstation empor mit der Aufschrift „Krühbusch". Wie ein kleines Kind saß sie auf der wackeligen Mauer, ließ ihre Beine hin und her wippen wie ihr Sohn, wenn er auf den Schulbus wartete. Auf einmal hörte ich Klecks aufschreien und die Haustür öffnete sich. Jannik, der kleine Nachbarsjunge, schaute nach draußen und erkundigte sich nach seiner Mutter. Klecks entwischte elegant durch den offen gelassenen Spalt der schweren Holztür. „Mama, der Bus fährt jetzt nicht.", hörte ich eine leise Stimme von unten emporsteigen. Ihr Gesicht wurde blass und sie blieb starr auf der Mauer sitzen. „Achso.", murmelte sie. „Wolltest du wieder wegfahren?", erkundigte sich Jannik und ging einen Schritt nach draußen, um seiner verlorenen Mutter näher zu sein. Sie schwieg. „Komm rein, es ist kalt.", waren die letzten Worte, die ich von Jannik hörte, bevor die Tür hinter ihm und seiner Mutter zu fiel.
Mittlerweile ist es schon nach eins und meine Augen lassen sich immer noch nicht schließen. Meine Gedanken kreisen um ein bestimmtes Thema, aber selbst mir ist es nach all der Zeit nach wie vor peinlich darüber nachzudenken. Zu viel habe ich schon darüber nachgedacht, es zerdacht, in die kleinsten Einzelteile zerlegt, aber noch immer haben die Fetzen keinen Sinn ergeben, die mich zu einem Ziel führen könnten. Ob ich überhaupt noch mit jemanden darüber reden sollte? Mein Blick schweift zum Tagebuch, welches immer öfter auf meinem Nachttisch liegt. Immer häufiger stehen kurze Sätze drin, krakelige Kritzeleien und hingeschmierte Gedichte, eher Gedankenpoesie, denn meine Deutschlehrerin hätte diesen Mist niemals ein Gedicht genannt. Denn ein Gedicht habe immer einer Norm zu folgen. Ein bestimmter Rhythmus müsse drin sein, eine ganz spezifische Wort- und Lautabfolge. Und der Sinn, der darf nicht fehlen, denn alles muss eine Bedeutung und einen Sinn haben, damit es überhaupt wahrgenommen und nicht selektiert wird. Denn je relevanter etwas alleine schon erscheinen mag, desto besser bleibt es im Gedächtnis.
Sowie der Stress, der mich überallhin verfolgt. Stress auf der Arbeit, Stress in meinen eigenen vier Wänden, Stress mit Freunden, Stress mit der Familie, Stress in der Beziehung, Stress mit mir selbst. Ich fühle mich so schlecht es Stress zu nennen, denn eigentlich sollte ich ja wunschlos glücklich sein. Eigentlich habe ich dankbar zu sein und gefälligst immer zu lächeln! Es gebe ja schließlich keinen Grund, dass es mir nicht gut geht, oder? Oder?!
Naja, vielleicht schon. Nur sind meine Gedanken und meine Gefühle leider nicht so bedeutungsvoll, dass sie nicht selektiert werden. Einzig und alleine von mir selbst werden sie gefiltert, interpretiert und in eine eigene Form gepresst, die ich mir selbst erschaffen habe und die mir nicht gut tut. Da spreche ich aus eigener Erfahrung. Wenn man mit meinen 20 Jahren von Erfahrung sprechen könne. Denn oft sei mir eingeflösst worden, dass ich ja überhaupt keine Ahnung von Dingen hätte. Haben es denn die Menschen, die ein Jahr länger auf diesem Planten ausharren müssen? Ich glaube nicht, dass Jannik's Mutter gewusst habe, wo sie um ein Uhr morgens hinwollte. Da soll ich also keine Informationen darüber haben, wie es um mich steht, wie ich mich fühle und wie ich damit umgehe? Witzig.
Nicht mal ich selbst nehme mich ernst genug, um mich selbst zu lieben, zu wertschätzen und zu respektieren. Wie sollen es dann andere tun? Wie soll Jannik's Mutter für Jannik da sein, geschweige denn für Klecks, wenn sie nicht mal versteht, was in ihr vorgeht?
Ich schrecke hoch, hebe meinen Kopf radikal nach oben und blicke Richtung Fensterscheibe, als ein schwarzes Gewühl an der Scheibe kratzt. „Klecks.", höre ich meine Stimme nur leise über meinen rasanten Herzschlag hinweg und öffne mein Fenster. Eine angenehme Brise zieht in meine Küche hinein, doch sie vergeht schnell wieder, sobald Klecks es sich auf meinen Küchentisch bequem gemacht hat.
Er kommt mich oft besuchen. Öfter, als Menschen, die ich einst Freunde oder Familie genannt habe.