"Ich sagte: Wohin wollt ihr?" Es herrschte Schweigen, das einzige, was an Vegas Ohren drang waren Blätter, die in einem leichten Windstoß raschelten. Beunruhigt musterte ihre Mutter erst die Frau, dann ihren Mann und blickte wieder zu der Fremden. Yuna neben ihr schien versteinert. Sie regte sich nicht, ihre Miene mit den verwundert zusammengezogenen Augenbrauen war wie eingefroren.
"Antwortet! Oder seid ihr allesamt taub?", verärgert schüttelte die Frau den Kopf. Sie griff in die Tasche ihrer Hose und zog ein blankes Messer. Die Kapuze verrutschte ein wenig und gab feuerrotes Haar frei, "Also, noch einmal: Wohin wollt ihr?" Sie sprach jetzt deutlich leiser, ihre Stimme klang drohend. Vega sah, wie ihr Vater mit sich selbst rang. Was sollte man auf diese Frage antworten? Selbst wenn es normalerweise seltsam ist, von einer fremden Frau gefragt zu werden, was sein Ziel ist; Die jetzige Situation sprengte den Ramen. Während die Rothaarige einen Schritt auf sie zu kam und Noel stotternd begann zu sprechen wägte Vega ihre Möglichkeiten ab. Das erste, was ihr in den Sinn kam, war sich genauso zu verhalten wie die Leute, denen sie am heutigen Morgen schon begegnet sind. Nicht aus der Reihe tanzen, sondern lächeln, die Schultern zucken und diesen eigenartigen Satz sagen, wenn sie ihn noch zusammenkriegen. Blieb nur zu hoffen, dass ihr nichts auffiel, der Frau. Wer auch immer sie sein mag. Der schwarzen Kleidung nach zu urteilen, wollte sie nicht gesehen werden. Die herrische Stimme, die keinen Widerspruch zuließ, wirkte einschüchternd und geübt. War sie eine Spionin? Wusste sie, was hier vorging und wollte sich vergewissern, dass alles nach Plan lief? In dem Fall war das Vortäuschen der Gehirnwäsche der beste Ausweg. Wenn sie ihnen diese Maskerade abkauft, waren sie aus dem Schneider und sie konnten beruhigt weiterfahren.
Wenn es allerdings nicht so gut läuft und sie erwischt werden, was würde dann passieren? Wenn jemand den Satz falsch sagt oder vergisst die Schultern zu zucken? Dann werden sie mitgenommen, ganz sicher. Bei dem Gedanken lief es Vega kalt den Rücken hinunter und sie umklammerte ihren Fahrradlenker fester. Die Fahrräder, fiel es ihr ein. Sie passen nicht ins Bild und würden sie verraten, wenn sie es nicht schon getan haben. Keiner der Menschen, wo auch immer sie hinwollten, waren zu dieser Reise mit dem Fahrrad aufgebrochen und schon gar nicht ohne Gepäck.
Mit diesem Gedanken schlug Vega den Plan in den Wind. Es war zu gefährlich, zu wahrscheinlich, dass der womöglichen Agentin etwas auffiel, und die Konsequenzen, die dann auf sie hereinbrachen, wollte sich Vega gar nicht erst ausmalen.
Also sollten sie sagen, dass sie auf dem Weg nach Hause sind und sich somit verraten? Die Frau könnte auch einfach genauso verzweifelt sein wie sie es gerade sind, auf der Suche nach Verbündeten, die ihr vielleicht Antworten liefern können. Diese Möglichkeit gefiel Vega schon besser. Sie war sich sicher, dass sie für ihre Familie sprach, wenn sie behauptete, dass ihnen eine Verbündete, der es gerade genauso erging wie ihnen, guttun würde. Niemand der Leute, die sich auf eine scheinbare Reise ohne Ziel begaben, war bisher auf sie zugekommen und hat sie angesprochen. Die Rothaarige war also in jedem Fall anders, sie war wie sie. Sie war noch heile, wie Vega fand.
Sie riss sich zusammen. Nur weil es eine wünschenswerte Vorstellung war, eine Mitstreiterin zu haben, durfte sie nicht überstürzt handeln. Der Anblick der Fremden, dessen dunkle Augen sie unter der noch immer verrutschten Kapuze heraus zu mustern schienen, verstärkten Vegas Misstrauen.
Vielleicht sollten sie einfach umdrehen und abhauen. Am liebsten hätte Vega energisch den Kopf geschüttelt. Das führte zu nichts. Sie hätten sich verraten und wären von da an auf der Flucht. Höchstwahrscheinlich würden sie nicht einmal weit kommen. Sie würden kaum ihre Fahrräder umdrehen können, ohne dass sich die Frau ihnen schon in den Weg gestellt, ihre Lenker festgehalten oder die Räder durchgestochen hätte. So wie sie aussah wäre sie auch dazu fähig. Und wenn sie einfach loslaufen und ihre Fahrräder zurücklassen sollten? Dann wären sie immer noch flüchtige. Nein, diese Möglichkeit fällt auch weg. Und damit blieb ihr nur eine übrig.
DU LIEST GERADE
Entflammt - gegen das System
Mystery / ThrillerSechzehn Jahre lang wohnte Vega mit ihrer Familie am Stadtrand einer verschlafenen Kleinstadt. Sechzehn Jahre lang hatte sie dies zumindest geglaubt. Als sich jedoch eines Morgens unzählige Menschen auf eine Reise begeben, von der keiner das Ziel be...