»Miss Samuelsson ist eine gute Frau. Sie grüßt stets und hilft mir oft, meine Einkäufe hochzutragen«, erklärte die ältere Dame anerkennend. »Sie ist die beste Nachbarin, die man sich wünschen kann.« Zufrieden rührte sie in ihrem Tee herum und strich sich eine ihrer grauen Strähnen aus dem faltigen Gesicht. »Und die kleine Lisette, zuckersüß, das Mädchen. Und so wohlerzogen.«
Du lehntest dich nach vorne. Der Sessel unter deinen Hintern war verboten bequem; du spieltest mit dem Gedanken, ihn dir von ihr schenken zu lassen. »Sehen sie mich bitte wieder an, Madam.«
Wie befohlen zuckten ihre grünen Augen wieder zu dir und du kralltest dich mit deinem Blick darin fest. »Also sind sie nicht der Meinung, dass Miss Samuelsson ihre Tochter schlecht behandelt?«
»Nein, selbstverständlich nicht, Sir. Die beiden sind ein Herz und eine Seele.« Ein entrüsteter Ausdruck umspielte ihr Gesicht wie eine Wolke.
Es war nach wie vor faszinierend, wie leicht sie dich in ihre Wohnung gelassen hatte. Ihr schwacher Geist hatte sich kaum gegen deine Manipulation gewehrt. Mit einem Mal war es für sie ganz selbstverständlich gewesen, einen wildfremden, gefährlich aussehenden Mann in ihre trauten vier Wände zu lassen und ihm einen Tee zu kochen. Ohne auch nur ein Fünkchen von Misstrauen.
»Aber sie haben das Kind doch in den letzten Monaten oft schreien gehört«, fuhrst du fort. »Ebenso wie Miss Samuellson. Das Rumpeln und Krachen vom Mobiliar hat Sie oft beim Einschlafen gestört und Sie hatten eine Heidenangst um das Kind. Nicht zu schweigen von den blauen Flecken, die Lisette vor einigen Wochen auf ihrem Arm hatte. Ihre Nachbarin schimpft oft grundlos mit dem armen Kind, und sie schlägt die Kleine. Letzte Wochen haben sie es doch mit eigenen Augen gesehen.«
Die Fenster zur Seele von der Dame wurden groß, doch sie sah nicht weg. »Was reden Sie da? Natürlich nicht.«
Ja, weil es nicht der Wahrheit entsprach. Aber das würdest du sie glauben lassen, wie es bei fast allen Bewohnern dieses Mehrfamilienhauses schon getan hatte. Bei manchen war es leicht gewesen, bei anderen hattest du mehr Energie aufwenden müssen. Doch am Ende waren alle fest davon überzeugt, dass Smilla ihre Tochter misshandelte. Und niemand konnte sich mehr an den Mann mit den schwarzen Augen und der Lederkapuze erinnern.
»Denken Sie noch einmal nach. Sie haben es gesehen. Miss Samuellson schlägt ihre Tochter«, wiederholtest du und intensiviertest deinen Blick.
Einen Moment sagte sie nichts, dann mischte sich Schuld in ihren Blick, und du konntest förmlich sehen, wie ihr Herz bei dem Gedanken daran brach, dass dieses zuckersüße Kind misshandelt wurde. »Miss Samuelsson schlägt ihr Kind. Das Rumpeln und Krachen vom Mobiliar hat mich oft beim Einschlafen gestört und ich hatte eine Heidenangst um Lisette. Die beiden haben oft geschrien. Das Kind hatte blaue Flecken auf ihrem Arm, ich hab es selbst gesehen«, wiederholte sie beschämt.
»Das ist richtig«, bestätigtest du ihre Aussage. Das war leichter als gedacht gewesen. Normalerweise musstest du deinen Willen mindestens drei bis viermal wiederholen, bis er bei der anderen Person Anklang fand.
Betroffen schlug die alte Dame die Hände vors Gesicht. »Grundgütiger, das arme Kind!«, stieß sie hervor.
Ein Grinsen unterdrückend lehntest du sich in dem weichen Sessel zurück. »Ja. Der Meinung bin ich auch. Da muss man doch irgendetwas tun.«
»Da haben Sie Recht, Sir.« Langsam nahm sie ihre Finger wieder von den Augen und strich sich die knittrige Bluse glatt. Entschlossenheit prangte nun in ihrer Miene wie ein pinkes Neonschild. »Ich werde das Jugendamt informieren.«
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Blutsspuren
Short Story»Allerdings ... machte es nicht gerade Spaß, wenn sie sich noch wanden wie ertrinkende Fische an Land? Dieses Fünkchen verzweifelter Wut voller Hilflosigkeit. Geradezu köstlich. Es war immer wieder aufs Neue ein Spiel mit dem Genuss. Je unglückliche...