Blau
Eine kurze Geschichte
Er hatte es nicht gewollt. Er hatte es nicht gebraucht. Es war ihre Idee gewesen. Ihr verrückter Traum, den sie sich erfüllen wollte, bevor das Leben zu Ende ging. Sie hatte diesen Traum schon ewig gehabt und nun musste er hinhalten. Ihm hätte es gereicht, einfach nur in den Garten zu sitzen und dem Gras beim Wachsen zuzusehen. Einfach dazusitzen und vor sich hinzustarren, während die ganze Welt um ihn herum in Hektik verfiel und jeder sein Leben lebte, wie er wollte. Doch sie war anders. Sie hatte schon immer mal etwas erleben wollen. Schon als kleines Kind wollte sie reisen, andere Welten entdecken und irgendwann ihren Kindern von all den schönen Abenteuern erzählen, doch das Leben hatte sie eingeholt.
Sie hatte einen Job beim nächstgelegenen Supermarkt bekommen, arbeitete, um ihre Wohnung zu finanzieren und ihre Familie zu ernähren und hatte den Gedanken, ihr Leben so zu leben, wie sie es sich als kleines Kind ausgemalt hatte, in die hinterste Schublade ihrer Wünsche gepackt. Sie musste sich eingestehen, dass das Leben nicht immer zu ihren Gunsten spielen konnte und, dass man früher oder später Prioritäten setzen musste. Auch, wenn es einem nicht leicht fiel und man auf vieles verzichten musste.
Als sie dreißig wurde war ihre Mutter verstorben. Die Frau, die sie jahrelang gepflegt hatte. Plötzlich war sie alleine auf dieser Welt. Ihren Vater kannte sie nicht und auch zu dem Rest ihrer Familie hatte sie keine Beziehung mehr. Vielleicht hätte sie sich damals ihren Traum vom Reisen erfüllen können, denn es gab nichts mehr, das sie in ihrem kleinen Dorf hielt, doch das meiste Geld, das ihre Mutter und sie angespart hatten, war für die Behandlungskosten draufgegangen, weshalb eine Reise für sie auch zu dieser Zeit nicht infrage gekommen war.
Drei Jahre später lernte sie schließlich ihn kennen. Hans. Hans Richter. Er kam von einem Einsatz zurück, ein Soldat und als sie sich das erste Mal begegneten war er gerade dabei, in den Bus, den auch sie noch zu erreichen versuchte, einzusteigen. Doch sie war spät dran. Sehr spät. Hans war es gewesen, der sie mit ihrer schweren Einkaufstasche den startenden Bus hinterherrennen sah und war nach vorne zum Fahrer gestürmt, um der Retter in der Not für die junge, hübsche Dame zu sein, die sich später Hals über Kopf in ihn verlieben sollte.
Zuerst trafen sie sich nur selten und sie hatte auch eigentlich gar nicht vorgehabt, sich näher auf ihn einzulassen, doch irgendwann gab sie den aufkeimenden Gefühlen nach und ließ sich auf seine charmante und irrsinnig komische Art ein. Zwei Jahre später gaben sie sich schließlich das „Ja-Wort".
Auch seine langen Auslandseinsätze, die sie in Kauf nehmen musste, störte das verliebte Paar nicht. Alles schien perfekt. Sie hatte ihn und er hatte sie. Das musste reichen. Das hatte ihr schon immer gereicht.Die Zeit verging und beide wurden älter... ruhiger. Hans ging in Rente und auch sie hatte ihren Job schon vor mehreren Jahren geschmissen und sich im Garten ihres kleinen Häuschens am Wald ein wahres Paradies aus Blumen, Gewürzen und Sträuchern aufgebaut. Jeden Tag verbrachte sie mehrere Stunden in ihrer eigenen, kleinen Welt und sorgte dafür, dass alles blühte und strahlte, als würde sie versuchen, sich damit zu beweisen, dass die Welt wohl doch nicht so schrecklich war, wie jeder immer behauptete.
Sie brachte die ganze Welt um ihn herum zum Strahlen und selbst, wenn es draußen noch so stürmte, stand sie dort im Regen und goss die Blumen. Das schien ihre Bestimmung zu sein. Ihr Leben.„Was hat man denn noch, wenn nicht seine gute Laune?", hatte sie immer gesagt. Es konnte alles Mögliche passieren, doch ihre gute Laune konnte man nicht ersticken.
Selbst, als sie die Diagnose bekam konnte man in ihrem Gesicht keinen Schimmer von Traurigkeit erkennen.
„Ich habe mein Leben lange genug gelebt. Ich bin zufrieden mit dem, was ich erreicht habe und du weißt doch, Hans. Man muss aufhören, wenn es am besten ist." Das waren ihre Worte, als er später mit ihr im Bett lag und sie beide den Geräuschen des Waldes lauschten.
Doch er konnte ihr nicht glauben. Er wusste, dass sie nicht zufrieden war. Noch nicht. Er wusste es ganz genau. Ihr Leben lang wollte sie reisen. Wollte sie einen ganz bestimmten Ort besuchen und nun sollte es zu spät sein?Er war nie wirklich scharf darauf gewesen, die große weite Welt zu erkunden. Eigentlich war er auch noch nie wirklich gereist. Also nicht freiwillig. Natürlich hatte er schon mehrere Monate, fast sogar schon Jahre im Ausland verbracht, um für sein Land geradezustehen, für sein Land zu kämpfen und im Notfall auch zu sterben, doch das hatte er nie wirklich genossen. Wie sollte man auch. An einem Abend saß man noch irgendwie gemütlich mit seinen Leidensgenossen auf einer Wiese, betrachtete die Sterne und hielt Ausschau nach feindlichen Truppen und einen Tag später musste man seine Freunde beerdigen oder einfach im Dreck liegen lassen, tödlich getroffen von einem Scharfschützen, den man nicht hatte kommen sehen.
Wahrscheinlich hatte er deshalb auch nie wirklich reisen wollen, denn Reisen bedeutete, man war nicht Zuhause und für ihn war es Zuhause am schönsten. Am ruhigsten. Dort hatte er seine Wurzeln, seine Freunde und sie. Seine Familie. Elli.
Für sie hatte er sich sogar dazu überreden lassen, sein gewohntes Heim, sein kleines Paradies zu verlassen. Nur für sie. Weil er sie über alles liebte und ihre Wünsche für ihn an erster Stelle standen.„Und was machen wir mit den Blumen? Wer kümmert sich um den Garten? Wie hast du dir das vorgestellt?", hatte er sie noch am gleichen Abend gefragt, als sie beschlossen hatten, ihre kleine, aufregende Reise anzutreten.
„Wenn ich nicht mehr da bin, wer kümmert sich denn dann um die Blumen?", hatte sie ihm entgegnet.
„Ich kann nicht von dir verlangen, dass du dich darum kümmern wirst und so, wie ich dich kenne, würdest du den Blumen mit deinen geschickten Fingern nur den Tod erschweren.", hatte sie schmunzelnd hinzugefügt und damit war die Sache geklärt. Die Blumen würden sich selber versorgen müssen. Auch, wenn es ihm einen kleinen Stich ins Herz versetzte, wenn er daran dachte, wie viel Schweiß und Blut sie in diesen Garten gesteckt hatte, nur, um ihn jetzt sich selbst zu überlassen. Doch sie war nicht von ihrem Vorhaben abzubringen. Sie wollte fort von hier und das Stückchen Leben, das sie noch hatte so gut wie möglich auskosten und er würde sie begleiten. Wo immer sie auch hin wollte.Und nun saß er hier in seinem kleinen, klapprigen Auto und starrte mit aufmerksamem Blick auf die Straße, die von strahlenden Rücklichtern erleuchtet wurde, die wiederum durch die nassen, spiegelnden Pfützen verdoppelt wurden und einem das Gefühl gaben, man würde unter sich eine zweite Dimension sehen, in der das Leben genauso ablief, wie in dieser, mit dem Unterschied, dass dort unten alles doch irgendwie anders war. Fasziniert wendete er den Blick von dieser verborgenen Welt und schaute wieder auf den Verkehr vor sich. Auch wenn es noch nicht ganz dunkel
war, denn die Sonne war gerade erst am Horizont verschwunden, waren die Straßen schon von gestressten Kaufmännern, überforderten Hausfrauen und anstrebenden Geschäftsleuten gefüllt, die den Tag erleichtert überstanden hatten und nun gestresst, aber zufrieden auf dem Weg nach Hause waren, nur, um sich am nächsten Tag erneut durch den Verkehr zu schlängeln, während sie wahrscheinlich das Gleiche tun würden, wie jeden anderen Tag auch. Und das nur mit einem Ziel. Erfolgreich werden und in dieser Welt, in der immer mehr angestrebt wird und immer mehr verlangt wird, mithalten zu können.
Wie sich die Welt doch verändert hat, dachte er. Nicht nur in dieser neuen Technik und dem täglich wachsenden Fortschritt. Auch die Menschen hatten sich verändert. Heutzutage wollte jeder etwas werden, wollte jeder einen Fußabdruck hinterlassen, damit man sicher sein konnte, dass die Menschen sich an einen erinnerten, sollte man nicht mehr da sein. Damit das Leben nicht umsonst war. Jeder wollte besser werden und mehr erreichen. Jeder wollte alles und dabei vergaßen sie das Wesentliche. Das, wofür es sich überhaupt zu leben lohnte.
Natürlich war auch Hans nicht wirklich sicher, was genau das Wesentliche sein sollte, doch auch er konnte sagen, dass es nicht das war, was die Menschen sich zu besitzen verhofften. Für ihn bedeutete ein erfülltes Leben, sein Leben zu genießen. Sein Leben zu seiner eigenen, persönlichen Geschichte zu machen und nicht zu versuchen, eine Geschichte zu seinem Leben umzugestalten. Es musste ihm selber gefallen und nicht geschichtsbuchtauglich werden. Nur, wenn man sein Leben ohne Zwang und Richtlinien leben konnte, hatte man gewonnen. Erst dann konnte man ein erfülltes Leben haben. Erst dann war man wirklich angekommen.
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BLAU
RomanceEr ist alt und schlecht gelaunt. Doch er möchte seiner Frau eine letzte Freude machen und beschließt mit ihr eine mühsame Reise zu unternehmen um seiner großen Liebe ihren letzten Wunsch zu erfüllen. Eine emotionale Reise beginnt und die Vergangenhe...