Teil2

6 2 2
                                    

Er befand sich gerade auf der Messachusetts Turnpike, die Straße, mit der seine kleine Reise nun anzufangen schien. 470 Meilen hatte er noch vor sich. 470 Meilen, bis sie ihr Ziel erreicht hatten. 470 Meilen, bis alles zu Ende war.
Sie hatte sich schon immer gewünscht, die Niagarafälle mit eigenen Augen zu sehen. Die niederfallenden Wassermassen in ihrer vollen Pracht beobachten zu können und die kleinen, kitzelnden Spritzer des aufschäumenden, wilden Gewässers auf ihrer Haut zu spüren. Sie wollte die Augen schließen und schreien, so laut sie konnte und trotzdem würde sie niemand verstehen können. Einmal in ihrem Leben hatte sie dieses Gefühl haben wollen. Nur ein einziges Mal.

„Nur dort kann man seine Gedanken laut aussprechen ohne, dass irgendjemand über dich urteilt. Und weißt du was? Weißt du was das ist?", hatte sie ihn einmal gefragt, als die beiden draußen im Garten, auf ihrer kleinen, knarzenden Holzbank gesessen hatten und ein kleines, braunes Kaninchen beobachteten, das nichtsahnend von einer Stelle zur anderen gehoppelt war.

„Freiheit, Hans. Es ist Freiheit. Nenn mir einen anderen Ort auf der Welt, wo du deine Gedanken laut aussprechen kannst und dich wirklich niemand dafür verurteilt. Nur einen."
Er hatte geschmunzelt.
„Nur einen? Ich kann dir eine ganze Menge sagen, aber es gibt nur einen, an dem ich meine Gedanken auch wirklich laut aussprechen würde."

„Ach ja? Und dieser wäre?"
„Du. Das bist du."
„Ach hör doch auf. Du bist ein alter Romantiker und übrigens bin ich kein Ort oder sehe ich irgendwie aus, als müsste man mich mit einem Straßenschild benennen? Ganz bestimmt nicht."

Sie hatte ihm seine Hand auf die Wange gelegt und war dann stumm aufgestanden und ins Haus zurückgekehrt, um den Kuchen aus dem Ofen zu holen.

„Ist es warm genug? Frierst du? Oder soll ich die Heizung ausmachen?" Seine Hand wanderte schon zum kleinen, schwarzen Knopf, mit dem er die Heizung zuvor hoch gedreht hatte, sodass es in kurzer Zeit sehr warm geworden war. Fast schon zu warm für seinen Geschmack.
„Ich will nicht, dass du dich erkältest. Es ist nicht gut, wenn es zu heiß ist... oder zu kalt."

Besorg drehte er an dem alten, schwer bewegbaren Rädchen und versuchte verzweifelt die richtige Temperatur einzustellen, bis sich plötzlich ihre blasse, leicht kühle Hand auf seine legte und ihn schwach aber dennoch bewusst davon abhielt, den Knopf gar völlig aus dem Armaturenbrett zu reißen.
„Es ist alles in Ordnung. Wirklich. Alles ist perfekt.", hörte er ihre Stimme flüstern. „Mach dir keine Sorgen. Mir geht es gut. Mir geht es sogar sehr gut."

„Aber ich muss doch dafür sorgen, dass es dir gut geht. Du könntest dich erkälten und dann müssten wir die Reise abblasen und du weißt, dass ich mir das niemals verzeihen könnte."
„Hans. Beruhige dich. Es ist alles gut. Mir geht es gut. Hör auf dir solche Sorgen zu machen, bitte."

Es war die Nacht vor ihrer großen Reise gewesen, als er zu zweifeln begonnen hatte. Was wäre, wenn doch nicht alles wie geplant ablaufen würde. Was, wenn er einen Unfall bauen würde und sie womöglich noch verletzt werden könnten. Er würde sich solche Fehler niemals verzeihen können.
„Mach dir über solche Dinge keinen Kopf. So wird man doch nie etwas erreichen können. Wenn du andauernd nur das schlechte in all den Dingen siehst, kommst du doch im Leben nicht weiter. Ich habe mein gesamtes Leben vorsichtig gelebt. Ich habe immer darauf geachtet, niemanden zu verletzen, immer nur logisch zu handeln und genau darauf geachtet, dass alles seinen geplanten Weg geht. Ich wollte kein Risiko eingehen, weil ich zu viel Angst vor den Konsequenzen hatte. Natürlich war mein Leben dadurch nicht schlecht. Es war nur nicht so, wie ich es mir als Kind immer erträumt hatte. Nichts hat sich so entwickelt, wie ich es gedacht hatte. Irgendwann muss man auch mal ein Risiko eingehen. Irgendwann ist es Zeit. Und du weißt, dass ich von dieser Zeit nicht mehr viel übrig habe." Sie saß auf dem Sofa im Wohnzimmer und packte die Reste des Kuchens als Proviant für ihr bevorstehendes Abenteuer ein. „Aber was ist, wenn es zu anstrengend für dich wird?", hatte er sie gefragt. Sie war aufgestanden und hatte den Kuchen beiseitegelegt. Nun stand sie vor ihm und legte ihre Hand an seine Wange, wie sie es schon unzählige Male getan hatte. „Dann ist es so. Und dann kann man nichts daran ändern.", flüsterte sie.

Auch jetzt konnte er ihre Hand an seiner Wange spüren. So sanft und liebevoll, als müsse sie aufpassen, ihn nicht zu verletzen.
Er hatte sich schon immer gefragt, wie sie es schaffte, so viel Gefühle in ihm zu wecken und das nur durch diese eine Berührung. Jedes Mal, wenn sich ihre Hand auf seine Wange legte und sie ihm tief in die Augen schaute fühlte er diese Ruhe in sich aufkeimen. Wie eine Welle überflutete ihn diese dunkle, angenehme Ordnung. Es sorgte dafür, dass er alles um ihn herum vergaß und sich wie ein Baby im Bauch seiner Mutter fühlte. Ein Baby, das nichts als die Liebe und Fürsorge seiner Mutter fühlte. Ein kleiner, schwacher Mensch, der seine bloße Existenz nur dieser einen Person zu verdanken hatte.
Und dennoch war sie weder seine Mutter noch war er ein Baby. Sie war Elli. Seine Liebe. Die Liebe seines Lebens.

„Gut. Die Heizung bleibt an. Ich hab's verstanden."
Geistesabwesend fasste er sich an die Wange, an der er ihre Hand spürte, doch sie war schon wieder verschwunden, wie ein Wort, das ausgesprochen wurde und dennoch sofort verflog. Ein einziger Lufthauch, der einer von unendlich vielen war.
Langsam verschwand diese Ruhe wieder und vermischte sich mit dem komischen Bauchgefühl, das er zu spüren begann. Er wusste nicht was er fühlte. War es Angst? Besorgnis? Freude? Er hatte dieses Bauchgefühl das letzte Mal verspürt, als er Elli zum ersten Mal gesehen hatte. Damals, im Bus. Damals, als sie sich noch nicht gekannt hatten und sich beide dennoch dem anderen verbunden gefühlt hatten.
Er hatte ihr die Einkaufsüten abgenommen und ihr einen Platz neben sich angeboten, auf dem sie sich dankend niedergelassen hatte. Sie hatte sich die feuchten Haare aus dem Gesicht geschtrichen und erleichtert an die Decke des Busses gestarrt, bis sie sich wieder soweit beruhigt hatte, um in ganzen Sätzen reden zu können.
„Elli.", hatte sie schließlich gesagt und ihm die Hand gereicht.
„Hans." Er hatte ihre Hand ergriffen und sie leicht geschüttelt.
Damals hatte er dieses Gefühl zuletzt gespürt. Es hatte sich angefühlt, als hätte er einen ganzen Tornado im Bauch, der dort sein Unwesen trieb. Aber kein normaler Tornado. Es war beinahe ein Hurrikan. Ein großer, aggressiver Hurrikan, der dafür sorgte, dass Hans ganz unerwartet die Röte ins Gesicht schoss und ihn zum ersten Mal in seinem Leben so richtig verlegen machte.

„Wie wär's mit Musik?", fragte er in die Stille hinein. Vermutlich schlief sie, was er ihr nicht verübeln konnte. Schnell drehte er das Radio an, jedoch immer darauf bedacht, es nicht zu laut zuschalten, um sie nicht zu wecken. Dennoch brauchte er nun Musik. Gute Musik. Alte Musik.
Er drehte den Regler so lange, bis ihm plötzlich eine bekannte Stimme ins Ohr fiel.

Life is older, older than the trees,
younger than the mountains, growin' like a breeze. country roads take me home
to the place I belong
West Virginia, mountain mama
take me home, country roads...

Er hatte das schräge Verlangen mitzusingen. Er wollte lauthals mitsingen, ganz gleich, wie schräg der Gesang und wie schlecht sein Englisch war. Er wusste nicht, ob es an dem Lied lag, oder daran, dass sie gerade Worcester erreicht hatten, doch plötzlich begann er sich zu freuen. Plötzlich sah er nicht nur das Negative in ihrem kleinen Abenteuer. Er bekam plötzlich Lust darauf, an einen Ort zu gehen, den er noch nie zuvor gesehen hatte. Er war froh, nicht zuhause zu sein auch, wenn er es zuhause liebte. In diesem Moment war er einfach nur froh, irgendwo anders zu sein. Irgendwo zu sein und sich nicht nur Gedanken über die Zukunft machen zu müssen, sondern einfach das Hier und Jetzt voll und ganz genießen zu können. Seine aufschäumende gute Laune konnte nur noch besser werden, denn nichts konnte ihn jetzt noch davon abhalten, Elli den besten Urlaub aller Zeiten zu machen. Fast nichts.

Ein leises, sehr leicht überhörbares Blinken holte ihn in die Realität zurück und ließ seine Mundwinkel nach unten zucken. Wieso musste das ausgerechnet jetzt passieren? Wieso ihm? 

BLAUWo Geschichten leben. Entdecke jetzt