-Prolog-

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Phil wusste nicht, ob er müde oder aufgeregt war. Er war sich momentan über viele seiner Emotionen nicht im Klaren. Sollte er das hier wirklich durchziehen? War das die richtige Entscheidung? In Gedanken versunken bog er in die dunkle und zugemüllte Gasse ein. Phil mochte diesen Weg sehr. Es war ein Pfad gesäumt von Wänden uralter Backsteinhäuser. Die meisten Menschen übersahen ihn, liefen an ihm vorbei, doch nach seiner Meinung wirkte er zu geheimnisvoll und unscheinbar zugleich und das machte ihn besonders. Überall hingen alte, schon etwas vergammelte Kinoplakate und Einladungen zu Events, die stattfanden, bevor er geboren wurde. Ein längst erloschenes Leuchtschild wies auf eine Diskothek hin, die in den Neunzigern geschlossen hatte.

Mit langsamen Schritten ging er an ihr vorbei. Ein paar Fensterscheiben waren eingeschlagen, auf anderen wurden mit Fingern Namen, Symbole und Formen in den Staub gemalt und enthüllten so einen Blick auf das Innere des Ladens. Auf der Drehbar standen immer noch Schnapsflaschen und auf ein paar Stehtischen standen noch Plastikbecher. Die Tanzfläche sah leblos aus, ohne den Menschen am DJ-Tisch, ohne die riesige Glitzerkugel an der Decke, die einmal auf den Boden gekracht sein musste. An diesem Ort war die Zeit stehen geblieben und die Disko schlief nur ein bisschen. Phil hoffte inständig, dass dieser Ort eines Tages wieder aufwachte und von irgendjemandem wieder zum Laufen gebracht wurde. Er warf einen Blick auf seine Armbanduhr und beschleunigte seine Schritte. Würde er zu spät kommen, zögen sie das Angebot bestimmt zurück.

Entweder tötet es dich oder bist einer von uns, hatte Nick gemeint. Was wenn es ihn tötete? Verdammt, warum mussten manche Entscheidungen im Leben so schwer sein? Philipp wusste, wenn er jetzt noch länger darüber nachdachte, würden ihm immer mehr Zweifel kommen. Also beschloss er, es einfach durchzuziehen und möglichst keinen Gedanken an das Risiko zu verschwenden.

Um Punkt Mitternacht kam er am alten Fabrikgelände hinter dem Wald an. Unverwandt starrte er den kugelrunden Mond an. Sollte er das normale, ein Unbekannter zu sein und vor allem in Ruhe gelassen zu werden wirklich aufgeben?

Ihm würde unglaublich viel als Wolf fehlen. Er zögerte jetzt mehr denn je, ob er die Halle wirklich betreten sollte.

Der Wind rauschte in seinen Ohren und er verspürte den schmerzhaften Muskelkater vom Vortag. Philipp holte noch einmal tief Luft und betrat das riesige Gebäude.

Der Teenager rief ein klägliches "Hallo" in die dunkle Halle, doch statt einer Antwort schwang nur sein eigenes Echo zurück. Als er schon daran zu Zweifeln begann, dass sie ihn vielleicht nur verarscht hatten, sah er weit hinten leuchtende, grüne Augen.

Phil begann zu rennen, ihm war es egal, dass er sich Löcher in die Hose von irgendwelchen Maschinen riss. Sie waren gekommen!

Keuchend kam er bei den Wölfen an und erhielt keine Begrüßung, sondern nur prüfende und missbilligende Blicke. "Da bist du ja", stellte Nick, der Anführer fest. Ja, er war erschienen. Jetzt konnte er keinen Rückzieher mehr machen, ohne zum Gespött der wohl coolsten Clique der Stadt zu werden.

Ohne große Reden zu schwingen, kam er gleich zum Thema. "Bereit?". Warte, wollte er das hier wirklich tun? Wollte er vielleicht sein gesamtes Leben in Angst und Schrecken verbringen oder gar gleich sterben? Aber die Verlockung war zu groß. Er würde ein Krieger sein und ein völlig anderes Leben führen.

Kaum merklich nickte Philipp. Angewidert fragte Nick: "Was hast du für eine Blutgruppe?" "AB Positiv", entgegnete er, verwirrt über so eine banale Frage. Dem Anführer entfuhr ein "Lecker", riss sich dann aber zusammen.

Jetzt kamen sie, langsam aber sicher, zum furchterregendsten Teil des Abends, ach seines ganzen Lebens! Nick ließ seine Augen rot aufblitzen und verwandelte sich zu einem Halbwolf. Sein reißzahnartiges Gebiss flößte gehörigen Respekt ein. Mit großen Schritten kam er auf Philipp zu, der abrupt zurückwich.

"Hat da jemand Angst?", grölte irgendwer von hinten. Wütend, als kleiner, ängstlicher Zwerg dargestellt zu werden, hastete er nach vorne und streckte seinen Arm aus. Ohne zu zögern, rammte Nick seine spitzen Zähne in Phils Unterarm. Blut tropfte auf den dunklen Boden und färbte ihn rot.

Krampfhaft biss er sich auf die Lippe, so stark, dass Blut an ihr herunterlief und versuchte so, Tränen zurückzuhalten und einen Aufschrei zu unterdrücken. Der Schmerz war überwältigend.

Plötzlich fing Nick an zu applaudieren und alle anderen fielen mit ein. So einen tosenden Applaus hatte er noch nie erhalten.

Langsam normalisierte sich sein Puls und der unfassbare Schmerz ließ nach. Das Adrenalin der Angst wurde von unbeschreiblichen Glücksgefühlen abgelöst.

Überglücklich stürmte Philipp zusammen mit den anderen Wölfen nach draußen in den Wald. Vom Adrenalin berauscht, verwandelte er sich zum allerersten Mal und heulte mit seinen neuen Freunden den Vollmond an...

Da waren wieder meine drei Probleme: Wölfe, Krieg und LiebeWo Geschichten leben. Entdecke jetzt