Anspannung

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Severus Snape zog einen kleinen Zettel aus seiner Umhangtasche und überflog diesen. „Unfähiges Pack“, grummelte er leise. „Hier steht eindeutig Karotis! Wie kann man mir dann anstelle einer Halsschlagader eine Karotte besorgen?“
Ohne auch nur ein einziges Mal aufsehen zu müssen, ging er den bald alltäglichen Weg vom St.-Mungo-Hospital für magische Krankheiten und Verletzungen in die Winkelgasse. Zu gern hätte er auf diesen Spaziergang verzichtet, doch duldete das Krankenhaus keine weiteren Aufschübe; es benötigte dringend einen Blutreinigungstrank.
Severus arbeitete bereits seit vier Jahren für die Forschungsabteilung des St. Mungos. Er überlebte Naginis Biss; ein Mysterium, das er noch immer nicht gelöst hatte und dessen Beantwortung ihm schon viele schlaflose Nächte beschert hatte – doch bisher ohne Erfolg. Wieder in Hogwarts als Lehrer zu arbeiten, kam für ihn nicht infrage, doch wollte er seine größte Leidenschaft – Zaubertränke – nicht aufgeben. Durch Zufall lernte er zu dieser Zeit Alphons Lyell kennen, den Leiter der Abteilung Forschung am St. Mungo, der ihn als Koryphäe auf dem Gebiet der Tränke ausmachte und sofort einstellte. Seitdem umfasste Snapes Aufgabengebiet die Optimierung und Neuentwicklung von Zaubertränken.
Auch der Blutreinigungstrank konnte stark durch ihn verbessert werden: War doch ursprünglich immer die Halsschlagader eines Zentauren nötig, konnte der Trank so modifiziert werden, dass nun die Halsschlagader eines Menschen reichte, welche den Vorteil mit sich brachte, viel günstiger und öfter vorhanden zu sein. Er wollte noch an diesem Tag seine Variation des Trankes den Heilern vorstellen.
Snape hatte schon fast die Apotheke erreichte, als er von hinten angerempelt wurde. Mit zusammengezogenen Augenbrauen fuhr er herum. „Haben Sie keine Augen im Kopf?“
Vor ihm stand ein kleiner Mann mit Halbglatze und starrte ihn erschrocken an. Stotternd stammelte er eine Entschuldigung in Richtung seiner Schuhe.
Ungeachtet dieser Worte, ließ Snape den Mann stehen und entfernte sich von ihm mit großen Schritten. Er betrat die Apotheke und sah mit gemischten Gefühlen, wie das Lächeln auf dem Gesicht der Apothekerin verschwand.
„Mr Snape, was kann ich diesmal für Sie tun?“, brachte sie etwas zu gequält hervor.
Severus schaute noch grimmiger als zuvor. „Das Hospital braucht Karotiden, menschlich, zwanzig Stück. Und legen sie mir jetzt ja keine Karotten auf den Tresen!“
Solange er wartete, regte er sich gedanklich erneut über die Verbohrtheit des St. Mungo auf, das ihm nicht die Halsschlagadern Verstorbener zur Verfügung stellte.
Der Weg zurück erwies sich als noch nervenraubender als der Hinweg, da sich die Winkelgasse innerhalb kürzester Zeit mit kaufwütigen Zauberern und Hexen gefüllt hatte.
Es geschah ein weiteres Mal, dass ein Mann mit Snape unfreiwillig zusammenstieß. Er beschleunigte seine Schritte, um schnell in eine Seitengasse abzubiegen, die von nur wenigen Menschen genutzt wurde. Kurz hielt Severus an und atmete tief ein und aus, um seine Wut wieder unter Kontrolle zu bekommen. Wenn er schon vormittags gegen einen Wutausbruch ankämpfen musste, wie würde dann erst der restliche Tag verlaufen?
Gerade als er sich so weit beruhigt hatte um weiterzugehen, merkte Snape, dass etwas gegen sein Bein prallte. Er wollte augenblicklich den Verantwortlichen mit allerlei Schimpfwörtern belegen, als er plötzlich ein kleines Mädchen vor sich stehen sah. Die schwarzen, schulterlangen Locken waren ein einziges Durcheinander, und das Rot des Kleides störte Snapes ästhetisches Empfinden. Dennoch verpuffte sein Zorn, als er in die fragenden Augen des Mädchens schaute.
Es war kein Geheimnis, dass er Kinder nicht leiden konnte. Sie waren laut, töricht und respektlos. Doch in diesem Moment war es anders: Seine Mundwinkel zuckten und er konnte sich gerade noch daran hindern, die Kleine vor sich anzulächeln. Er fand sie irgendwie … niedlich.
Hinter ihm nähert sich eine Person. Der Lockenkopf schaute an seinem Bein vorbei und rief freudig „Mama!“ Dann stürmte sie an ihm vorbei.
„Bitte entschuldigen Sie meine Tochter. Sie ist einfach ein kleiner Wirbelwind“, hörte Snape eine Frauenstimme hinter seinem Rücken sagen. Sie kam ihm ungewöhnlich bekannt vor. War das etwa …?
Langsam drehte er sich um. „Granger!“, brachte er fast würgend hervor, als er die junge Frau vor sich erkannte.
Hermine wich augenblicklich jegliche Farbe aus dem Gesicht. Sie hob ihre Tochter hoch und drückte sie an sich, sodass Severus das kleine Gesicht nicht mehr sehen konnte. Ihre Augen wanderten wild umher, als würde sie einen Fluchtweg suchen, und noch ehe Snape etwas sagen konnte, hatte sie kehrt gemacht und war in der Menschenmenge untergetaucht. Noch eine Weile stand er reglos da und starrte in die Richtung, in die Hermine gerade verschwunden war.
Seit Kriegsende hatte er sie nicht mehr gesehen. Sofort erinnerte er sich an ihren Gesichtsausdruck, als ihr bewusst wurde, was genau er mit ihr in der Zelle tun würde. Ein Ekelgefühl durchzog ihn und er schüttelte sich kurz. Doch eine andere Möglichkeit gab es damals nicht. Snape hatte eine Aufgabe zu erfüllen und hätte er sich geweigert, wäre im schlimmsten Fall seine Tarnung aufgeflogen. Der Trank hatte dafür gesorgt, dass Granger nur unterbewusst seine Handlung verfolgen konnte; hätte ein anderer Todesser die Aufgabe erfüllen müssen, wäre sie hinterher sicherlich zutiefst traumatisiert gewesen.
Seine Rekapitulationen brachten ihn immer wieder zu der Erkenntnis, dass dies der einzige Weg war, um einigermaßen unbeschadet aus dieser schrecklichen Situation herauszukommen – die Schuldgefühle jedoch blieben.
Severus war geschockt, aber zugleich auch erleichtert, als er Granger, die ihn selbst nach Jahren noch im Traum erschien, vor sich sah. Hatte er sie zu der Zeit als Lehrer nur als Kind wahrgenommen, so musste er sich eingestehen, dass sie nun eine erwachsene Frau war. Sie wirkte verängstigt, was Snape ihr nicht zum Vorwurf machen konnte, doch fühlte er, wie eine Last von seinen Schultern genommen wurde, da er nun die Gewissheit hatte, nicht ihren Lebensmut genommen zu haben.
Das Bild von Hermine Granger als Mutter konnte er hinwieder nur schwer verarbeiten. Auch wenn er darin kein Experte war, so schätzte er das Kind auf drei oder vier Jahre. Ist es etwa noch zu Zeiten des Krieges entstanden?
Ein flaues Gefühl schlich sich ein. War es möglich, dass …? Snape schüttelte vehement den Kopf und zwang sich dazu, diesen Gedanken nicht zu vollenden. Er dachte wieder an das kleine Mädchen, das noch vor wenigen Minuten direkt vor ihm stand. Eine Sehnsucht packte ihn plötzlich und für den Bruchteil einer Sekunde stellte er sich vor, wie er Grangers Kind in den Arm nahm. Er war so verwirrt von den Geschehnissen, dass er nicht mehr klar denken konnte.
Erst als Snapes Faust gegen eine Häuserwand krachte, holte ihn der Schmerz wieder in die Realität zurück. Schwer atmend wurde ihm eines bewusst: Er brauchte mehr Informationen.

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