Als er die Große Halle betrat, schlug ihm der Lärm der Schüler unangenehm entgegen. Seit zwei Tagen war Hogwarts wieder gefüllt mit pubertären Halbstarken – und schon jetzt nervten diese Snape. Er wünschte sich zurück in das Untergeschoss des St.-Mungo-Hospitals, wo er in Ruhe seinen Forschungen nachgehen konnte, doch sogleich verwarf er den Gedanken wieder, als er an sein selbstgesetztes Ziel dachte, das nur über diesen Weg zu erreichen war.
Seine Augen suchten den Lehrertisch ab und blieben zuerst bei hellbraunen und Sekunden später bei schwarzen Locken hängen. Granger und das Kind saßen wie immer geschützt zwischen McGonagall und Hagrid und ignorierten ihn.
Seit seiner Ankunft am späten Abend des einunddreißigsten Augusts, hatte er beide nur bei den Mahlzeiten gesehen, als wären sie penibel darauf bedacht, ihm aus dem Weg zu gehen. Schon Grangers Flucht nach seiner Anreise war merkwürdig gewesen; wenn er jedoch an ihre bisherigen Begegnungen dachte, so war es ein durchaus normales Verhalten der jungen Frau.
Widerwillig nahm Severus den Platz neben Hooch ein.
„Na, Griesgram, alles klar bei dir?“, neckte sie ihn auch sogleich.
Ein Brummen war seine Antwort. Eigentlich mochte er die ältere Dame, nur ihre extrovertierte Art konnte zeitweilig sehr anstrengend sein.
Einige Plätze weiter konnte er sehen, dass Granger und ihre Tochter aufstanden und in Richtung Ausgang gingen. Das Mädchen hüpfte wie immer vergnügt hinter seiner Mutter her, und Snape konnte nicht verhindern, dass ein leichtes Lächeln seine Lippen umspielte. Er stockte, als er sah, wie Flora sich umdrehte und ihm mit einem zauberhaften Lächeln zuwinkte. Verstohlen schaute er nach rechts und links, um zum einen herauszufinden, ob das Kind vielleicht eine andere Person meinte, und zum anderen, ob irgendjemand diese seltsame Begebenheit registriert hatte. Doch sämtliche Lehrer waren in Gespräche vertieft.
Nervös fuhr sich Snape durch seine Haare. Dieses Mädchen schaffte es immer wieder, ihn mit solch banalen Dingen zu verunsichern. Er nahm einen tiefen Schluck seines dampfenden Tees und widmete sich appetitlos seinem Mittagessen.
Nachdem Snape nachmittags die Zweitklässler in seinem Unterricht verängstigt hatte, schlich er im ersten Stockwerk umher. Er hatte erfahren, dass irgendwo hier Grangers Räume waren und suchte nun die Wände nach versteckten Türen ab. Immer wieder schaute er sich um, ob ihn auch ja niemand bei seiner so kindischen Aktion beobachtete. Er schämte sich vor sich selbst, doch ließ ihn der Gedanke, ganz genau zu wissen, wo Granger und ihr Kind wohnten, nicht mehr los.
Als er sich einer Biegung näherte, hörte er immer deutlicher eine Kinderstimme, die lebendig sang. „Der Spielmann, der Spielmann ist immer noch nicht da. Er kommet aber noch, er kommet aber noch …“
Nach einigen Metern sah er Flora, die mitten auf dem Gang stand und mit einem Kuscheltier tanzte. Er blieb stehen und verfolgte sie mit den Augen.
„Denn ohne die Musik kann das Mädel sich nicht drehn …“ Einige schwindelerregende Drehungen um die eigene Achse folgten, während der Löwe daneben stand und dem Mädchen klatschend zuschaute. „ … kann der Junge sich nicht drehn … Jetzt du!“, rief Flora, und sofort fing das Plüschtier an zu tanzen.
Eine Wärme zog sich durch Severus' Körper, die er schon lange nicht mehr gespürt hatte, und ein Gefühl der vollsten Zufriedenheit zurückließ. Dieses kleine Wesen dort vor ihm sah so glücklich aus. Unweigerlich kam die Frage auf, ob er jemals so eine Freude als Kind gezeigt hatte.
Sein Vater war kein guter Mann – schon zeitig lernte Snape das. Er schenkte ihm keinerlei Beachtung, trank lieber ein Bier, als sich mit dem eigenen Sohn zu beschäftigen. An manchen Abenden, wenn seine Mutter mal ausgehen durfte, nahm er Severus in Kneipen mit, um sich dort mit seinen sogenannten Freunden zu treffen, dem Alkohol zu frönen – immer bis spät in die Nacht. Oft war er dann so betrunken, dass er kaum noch selbstständig den Weg nach Hause fand, und sein Sohn musste ihn durch die Dunkelheit lotsen, über Straßen führen, und das alles im Alter von nicht einmal sechs Jahren. Seine Mutter nahm es schweigend hin.
Gedankenverloren betrachtete er Floras magisches Kuscheltier. Wie sehr hatte er sich damals auch eines gewünscht; einen Freund, der immer für einen da ist, der zuhört, mit dem man spielen kann. Doch sein Vater hatte für derlei Dinge kein Verständnis. Schon ein simples Muggelplüschtier tat er als Tinnef ab.
Severus bastelte sich selbst Spielzeug aus Müll oder Dingen der Natur, wie einst seinen ersten Freund, der, obwohl er nur ein verknotetes altes Geschirrtuch war, ihm jahrelang so viel bedeutet hatte. Geschützt in einer robusten Box lag es noch immer sicher versteckt in seinem Kleiderschrank, und Snape würde den Teufel, es irgendwann einmal wegzuwerfen.
Flora hatte wirklich Glück. Ihre Mutter war stark und liebevoll – ganz anders als seine Mutter, die, obzwar sie über magische Fähigkeiten verfügte und somit seinem Muggelvater weit überlegen war, resignierte und ihr Leben von einem despotischen Mann bestimmen ließ. Nur in wenigen Momenten brachte sie ihrem Sohn die Liebe entgegen, die ein Kind verdiente.
Ein leichtes Zupfen an seinem Hosenbein ließ Snape nach unten schauen. Dort stand der kleine Löwe und versuchte, ihn in Floras Richtung hinter sich herzuziehen.
Was bildete sich dieses Ding ein? Ärgerlich schüttelte er sein Bein, doch das Kuscheltier hielt sich krampfhaft daran fest.
„Lass das, Stinker!“, rief das Mädchen aus einiger Entfernung.
Für einen Augenblick verrutschte Snapes Maske.
Hatte das Kind ihn gerade Stinker genannt? „Was fällt dir …“ Gerade noch rechtzeitig merkte er, dass nicht er gemeint war, da der Kuschellöwe seine Hose losließ. Der echte Stinker trottete mit gesenktem Kopf Flora entgegen.
Unauffällig wollte Snape umdrehen, doch neben ihm baute sich eine kleine Gestalt auf. „Ich heiße Flora. Und das ist mein Stinker.“ Sie nahm den Löwen auf den Arm und schaute Severus erwartungsvoll an.
Er musste schlucken. Was wollte das Kind nur von ihm? Normalerweise wirkte er eher abschreckend als anziehend, und noch nie zuvor hatte er erlebt, dass jemand so offenkundiges Interesse ihm entgegen brachte. Konnte er einfach weggehen oder müsste er sich dann schuldig fühlen? Verbissen suchte er nach Worten, um das Mädchen abzuwimmeln.
„Meine Mama muss noch kurz etwas für die Arbeit machen, dann gehen wir zusammen raus. Solange darf ich hier auf dem Gang noch mit Stinker spielen“, sagte Flora glockenhell und zeigte schräg hinter sich.
Severus suchte die Wand ab und fand einen hochgerollten Wandteppich, der den Blick auf eine geöffnete Tür zuließ. Granger musste sie absichtlich offen gelassen haben, um ihr Kind zumindest hören zu können.
„Ich darf von hier“, Flora rannte bis zu der Biegung, aus der Snape gerade gekommen war, „bis hier spielen.“ Sie machte kehrt und stürmte an dem großen Mann vorbei bis zu einem Gemälde mit einem blökenden Schaf.
Amüsiert folgte er Stinker mit den Augen, der hechelnd versuchte Schritt zu halten, jedoch kläglich versagte.
Das Mädchen war wieder bei ihm angekommen. „Du heißt Sabberus, oder?“
Schon zum dritten Mal an diesem Tag sorgte sie dafür, dass Snape völlig unkontrolliert sämtliche Gesichtszüge entglitten.
„Das ist ein komischer Name. Sabberst du so viel?“, fragte Flora weiter und verzog dabei ihren Mund.
„Ich heiße Severus, nicht Sabberus“, antwortete Snape ruhig und war über sein eigenes Verhalten erstaunt. Hätte er nicht wütend sein und ausrasten müssen? Immerhin hatte ihn dieses Kind mit der falschen Aussprache seines Vornamens beleidigt. Demgegenüber stand aber das tiefe Gefühl des Verstehens, was ihn absolut irritierte. Welche Macht hatte das Mädchen nur über ihn, dass er in ihrer Gegenwart so gefühlsduselig wurde? Bereits des Öfteren war er Kindern in diesem Alter begegnet, doch hatte er für sie lediglich das Maß an Sympathie übrig wie für die, die er unterrichten musste.
Sein Kopf schnellte zur Seite, als er eine Frauenstimme hörte. „Redest du die ganze Zeit nur mit Stinker oder ist noch jemand bei dir?“ Granger betrat den Gang und schaute zuerst liebevoll zu ihrer Tochter und dann erschüttert in Snapes Gesicht. „Was machen Sie denn hier?“
Gerade als er sich ein paar beleidigende Worte zurecht gelegt hatte sprach Flora: „Er ist mein neuer Freund.“
Sowohl bei Severus als auch bei Hermine wanderte eine Augenbraue in die Höhe.
„Geh bitte in dein Zimmer, dort kannst du noch ein bisschen spielen. Ich will kurz mit Professor Snape reden.“
Flora nickte. „Tschüss, Severus“, rief sie noch, ehe sie durch die Tür verschwunden war.
Granger blickte ihn wütend an. „Was haben Sie mit meiner Tochter gemacht?“
Fragend schaute er die junge Frau vor sich an. „Ich weiß nicht, was Sie meinen.“
Ein eisiger Ausdruck zeigt sich auf ihrem Gesicht. „Versetzen Sie meinetwegen die Schüler in Angst und Schrecken, aber lassen Sie Flora in Ruhe. Es reicht, dass ich jahrelang ihre Launen ertragen musste.“
„Denken Sie wirklich, ich würde einfach so Ihr Kind anfahren?“
„In der Tat. Es wäre nichts Ungewöhnliches für Sie.“
Einige Erinnerungen vergangener Jahre suchten sich einen Weg in seinen Verstand. Ja, er ließ seine Wut und Frustration damals oft an den Schülern aus, meist ungerechtfertigt. Sein damaliges Leben als Doppelspion brachte so viel Verbitterung mit sich, dass er nur schwerlich seine negativen Emotionen kontrollieren konnte. Dies hatte sich seit Kriegsende allerdings geändert: Zwar wurde er noch immer des Öfteren wütend, und sicher war auch, dass er nie ein fröhlicher Zeitgenosse sein würde, doch war er wesentlich entspannter und gleichgültiger.
Snape atmete ruhig ein und aus, ehe er sprach. „Ich habe Flora nichts weiter als meinen Namen genannt. Oder hatten Sie etwa das Gefühl, sie sei verstört?“
Grangers Miene wurde weicher und fast schon schüchtern beäugte sie ihn.
„Gerade Sie müssten wissen, unter welchem Druck ich damals stand, welche schrecklichen Aufgaben ich zu erfüllen hatte. Ist ein gewisser Hass auf alles und jeden da nicht wenigstens ein bisschen verständlich?“ Er ging einige Schritte in ihre Richtung und fixierte ihre Augen. „Urteilen Sie nicht zu vorschnell.“ Seine Worte, so nah an ihrem Ohr gesprochen, dass sein Atem Hermine kitzelte, verursachte eine zarte Gänsehaut auf ihrem Körper, die Severus mit Genugtuung wahrnahm. Alsbald drehte er um und entfernte sich in Richtung seiner Räume.
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Lebensgefühle
Fiksi PenggemarVier lange Jahre hatte Severus Snape von ihr weder etwas gehört noch gesehen. Eine Begegung zeigt ihm jedoch, dass ein längst vergangenes Ereignis beider Leben grundlegend verändert hat.