Kapitel 22

104 21 62
                                    

[Icarus]

Als Ketara ihr Augen öffnete sah sie die warmen, braunen Augen von Kalea, die in dem schwachen Licht, das durch die weißen Vorhänge fiel etwas heller wirkten als beim ersten Treffen mit ihr.

Sie lag mit dem Bauch nach untern auf einem Sofa, das sich eigentlich relativ bequem anfühlte wenn man den kratzigen Stoff ignorierte, womit es überzogen war und sich nur auf die Größe konzentrierte.

„Guten Morgen, Sonnenschein" wisperte Kalea während sie eine Strähne von Ketaras dunklem Haar aus ihrem Gesicht hinter ihr Ohr strich und ihre Fingerspitzen über ihre Wange fuhren.

Ketara hatte lange schon kein Gefühl der Zärtlichkeit mehr gefühlt. Das Zärtlichste war ein Händedruck des Präsidenten gewesen, den sie nur für ein Foto gemacht hatten, mehr nicht.

Damals war es ein großes Ereignis gewesen den Präsidenten höchst selbst zu treffen, den Mann, der alles verändert und die Arena erfunden hatte. Der Mann, den Ketara einst gemocht hatte und sogar als ein Vorbild gesehen hatte. Jetzt bereute sie es, das sie ihm keinen ihrer Silberfedern in die Brust gejagt hatte.

„Was ist passiert?" fragte sie verwirrt. Sie versuchte sich aufzusetzten, aber die Schmerzen an ihrem Rücken zwangen sie vorerst liegen zu bleiben und schutzlos dazuliegen.

Sie strich ihr weiterhin beruhigend über den Kopf und lächelte leicht. Ihre Augen waren warm und beruhigend, irgendwie vertrieben sie alle Sorgen aus Ketaras Kopf.

„Du bist im Fahrstuhl zusammengebrochen und hast mir dein tiefstes Geheimnis erzählt. Erinnerst du dich?" fragte Kalea sie sanft, ihre Stimme klang nicht angewidert oder abstoßend. Im Gegenteil. Sie klang verständnisvoll und aufgeschlossen gegenüber diesem Thema.

„Also...weißt du alles..." begriff Ketara etwas bitter. Sie hatte es all die Jahre versteckt, all die Jahre hatte sie damit gelebt und jetzt hatte sie es einer wildfremden Person erzählt die ihr dabei zugesehen hatte wie sie einen Mann erstochen hatte, auf offener Straße. Ohne Gnade.
Jetzt hatte Kalea noch einen Grund mehr sie zu verstoßen, zurück auf die Straße zu schicken und sie sterben zu lassen. So schwach wie sie war, würde sie keinen weiteren Mann mehr töten können, egal wie sehr ihr der Sinn danach stand.

„Hey" sie legte den Kopf leicht schief und lächelte noch immer sanft als hätte Ketara ihr nicht gerade erzählt das sie sich in ihrem Körper unwohl fühlt weil sie das falsche Geschlecht hatte.
„Ich habe nichts dagegen. Was auch immer in dir vorgeht, was auch immer dein wahres Geschlecht ist, es ist mir egal. Nicht du bist das Problem, dein Geschlecht ist es. Nicht du musst dich ändern, dein Geschlecht muss es"

Zuerst konnte Ketara diesen Worten keinen Glauben schenken. Sie war so oft verraten und betrogen worden, so oft manipuliert und ignoriert. Es war schwer zu erkennen wenn jemand einmal die Wahrheit sagte. Es war generell schwer zu glauben, das man kein Fehler war wenn man sich selbst so fühlte.

„Woher willst du das wissen? Mein ganzes Leben habe ich mich schon hinter einer Fassade versteckt weil die ehrenwerte Leiterin nicht wollte das...das ich mein Geschlecht ändere. Sie meinte das wäre gegen meine Natur und schlecht für meine Karriere als Nummer 1" gab sie zu.

Genau das waren die Worte der Leiterin gewesen. Sie meinte, eine verdammte Transe hätte nichts in ihrer Arena zu suchen, schon gar nicht als Nummer 1.

Damals war Ketara noch jünger gewesen. Gerade einmal elf Jahre alt und schon damals hatte sie gewusst das sie sich als keines der Geschlechter identifizieren wollte oder konnte. Sie wollte kein fixes Geschlecht haben, sondern sich danach richten wie sie sich eben fühlte. Manchmal wünschte sie sich ein Junge zu sein, manchmal fühlte sie sich eben feminin. Sie wollte sich nicht auf ein Geschlecht festsetzten, sie wollte frei sein.

„Siehst du deine Leiterin hier irgendwo? Nein. Sie hat dir gar nichts vorzuschreiben schon gar nicht wenn es um dein Geschlecht oder deine Sexualität geht. Es ist dein Leben, nicht ihres" sagte Kalea nur kopfschüttelnd. Ketara lächelte leicht und schaffte es sich auf ihren Rücken zu drehen und ihren Rücken von der Lehne fernzuhalten, sodass sie nun aufrecht saß.

„Kalea...ich denke ich bin Genderfluid" stellte sie klar und das Grinsen, das Kaleas Lippen nun zierte brachte auch Ketara dazu leicht zu lächeln. Noch nie hatte sie sich so willkommen gefühlt, so akzeptiert. Nach jahrelangem Verstecken konnte sie endlich sein wer sie wirklich war.

„Ich würde dieses großen Schritt feiern und einen kompletten Neustart machen. Hast du schon einen neuen Namen?" fragte sie und ohne darauf zu achten nahm sie Ketara's Hände in die ihren. Kalea war einfach zu glücklich um darauf zu achten.

„Ja..." meinte Ketara nach kurzem überlegen und ihre Augen blitzen leicht auf. „Nenn mich Icarus"

Es war nicht möglich von einem Tag auf den nächsten sein Geschlecht zu verändern, das war Icarus bewusst. Er fühlte sich jetzt viel besser, jetzt wo er endlich war, wie er sein wollte. Frei.

Er musste sich nicht mehr auf ein Geschlecht festlegen sondern konnte sich nach seinen Gefühlen richten und er fühlte sich wie ein Junge.

Es war zwar ungewohnt nicht mehr den alten Namen zu tragen und mit diesem angesprochen zu werden, aber es tat gut einen Neuanfang zu machen, die Zeiten in der Arena für einen kurzen Moment zu vergesse und einfach ein Mensch zu sein, der nicht immer über den Tod nachdenken musste.

Icarus. Dieser Name gefiel ihm gut. Es war der Name von dem Neffen eines Erfinders namens Dädalus. Er hatte Flügel konstruiert um aus dem Labyrinth des Minotaurus zu entfliehen, das er selbst erfunden und erbaut hatte nach den Wünschen des König Minos. Er war mit seinem Neffen Icarus geflohen doch dann war etwas passiert.
Der Junge wollte mehr. Er flog hoch hinauf, immer weiter gen Himmel sodass die Schreie seines Onkels nicht mehr zu hören waren. Das war sein Fehler gewesen.
Das Wachs, das die Feder zusammengehalten hatte, war geschmolzen und Feder nach Feder war weggeflogen bis keine mehr übrig war und der Junge in seinen Tod stürzte.

Icarus hatte seine Flügel verloren wie es auch ihm passiert war, aber er würde nicht in einen grausamen Tod stürzen. Icarus würde fliegen.

Nun stand er vor einem Spiegel und Kalea löste ihre Hände von seinen Augen. Was er im Spiegel sah, war einfach unfassbar. Er hatte kurze Haare. Nicht ganz kurz geschoren, wie man es beim Militär trug, aber nun ringelten sich kleine Locken seinen Schädel entlang. Es sah einfach unfassbar aus gut aus.

„Das...bin ich?" fragte er erstaunt als er in das Gesicht seines Gegenübers sah. Sein neues Ich, seine Zukunft. So würde Icarus also von nun an aussehen. So...anders...

„Das bist du, Icarus. Ich hoffe es gefällt dir. Ich habe noch nie Friseur gespielt" lachte Kalea aber sie schien ziemlich stolz zu sein, zurecht. Es gefiel ihm wirklich gut.

Er drehte sich zu ihr um und lächelte sie ehrlich an. „Ich danke dir, Kalea. Ohne dich...ohne dich wäre ich vermutlich auf der Straße verreckt..." meinte er nur dankbar und es war, als würde Kalea bei diesen Worten leicht erröten.

„Hey. Ich konnte dich doch nicht zurücklassen nachdem zu meine Ehre verteidigt und diesen miesen Typen gekillt hast. Nicht der Rede wert" winkte sie locker ab, als wäre das wirklich nichts wirklich wichtiges gewesen.

Icarus nahm ihre Hand in die seine und sah sie eindringlich an. „Ich meine es ernst. Danke"

Ihre Blicke trafen sich und sie schienen sich nicht mehr loslassen zu können, als wären sie ineinander verankert, ertrunken in den tiefen Seen die ihre Augen darstellten.

Kalea durchbrach den Blickkontakt indem sie ihren Blick auf den Boden richtete und ihre Hand aus dem leichten Griff löste.

„Komm. Ich will dir meine Schwester vorstellen" sagte sie immer noch rot im Gesicht, aber ohne eine Antwort abzuwarten winkte sie Icarus zu sich und ging voraus.

Hier möchte ich nur anmerken das ich nicht Genderfluid bin aber ich finde das Thema Geschlecht sehr wichtig weshalb ich es hier ansprechen wollte mit Icarus. Ich hoffe ich bringe das Thema so gut wie möglich rüber und wenn ich Fehler mache dann könnte ihr das gerne anmerken und ich werde Änderungen vornehmen.
~Reeves

|•Sick Boy•|Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt