Kapitel 1

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Das Geräusch klang wie eine Mischung aus Ratschen und Reißen, mit dem das abgewetzte Messer durch meine Haare fuhr. Lange, graubraune Strähnen, auf die ich lange so stolz gewesen war, landeten im Matsch der kleinen Sackgasse, die ich hoffentlich bald nicht mehr mein Zuhause nennen musste. Zu den Strähnen auf dem Boden gesellten sich weitere. Immer wieder säbelte ich mit dem Messer so lange an den verbleibenden auf meinem Kopf herum, bis ich schließlich fertig war. Mit der freien Hand fuhr ich mir durch die Haare, die jetzt vielleicht noch so lang waren, wie ein kurzer Schiffsnagel. Ich steckte das Messer zurück in die Scheide an meinem Gürtel und klopfte mir die restlichen Haare von der Weste. Es musste einfach klappen.
Entschlossen hob ich meinen Beutel auf, in den ich meine paar wenigen Habseligkeiten gestopft hatte. Der Schlamm unter meinen etwas löchrigen Schuhen quietschte, als ich aufstand und aus den Schatten der Gasse in den noch schwachen Sonnenschein der Straße trat. Obwohl es erst früh morgens war, hörte ich die Möwen schon in der Ferne kreischen, als ich mich auf den Weg zum Hafen von Cawsand aufmachte, den wir uns mit dem Nachbardorf Kingsand teilten. Oder teilen mussten.
Im Kopf ging ich immer wieder meinen Plan für den Tag durch. Arbeiten bis mittags, Lohn auszahlen lassen, zum Schiff, sag du bist ein Junge. Arbeiten bis mittags, Lohn auszahlen lassen, zum Schiff, sag du bist ein Junge. Leise flüsterte ich die Worte vor mich hin.
Der Hafen lag noch still und verlassen da. Nur ein Handelsschiff, das gehalten hatte um einen Mast reparieren zu lassen, lag an einem der Docks. Daneben zwei Fischerboote. Friedlich schaukelten sie auf den Wellen auf und ab, die leise gegen die Holzbalken des Piers klatschten. Aber das würde nicht lange so bleiben. Das Schiff mit den blauen Segeln würde wiederkommen, so wie es das jedes Jahr tat und diesmal würde ich nicht hierbleiben.
Der beißende Geruch, als ich das kleine Steinhaus am Ende des Kais mit dem etwas schief hängenden Schild mit der Aufschrift „Schiffsschmiede" erreichte, verriet mir, dass schon jemand da war. Ich stieß die klemmende Holztür mit der Schulter auf. Meine Augen brauchten eine Weile, um sich an das schummerige Licht zu gewöhnen. Der Geruch hier drinnen war noch beißender und stickiger als draußen und ließ meine Augen brennen. Ich schob die Tür ganz auf, sodass ich den Haken, der von der Wand hing, in die Öse, die in das spröde Holz geschraubt war, einhängen konnte. Der Rauch zog etwas nach draußen und ich konnte wieder etwas klarer sehen. Neben der Esse stand Richard und schob Kohlestücke von links nach rechts.
„Du bist zu spät, Hazel.", knurrte er. Ich sagte gar nichts, sondern nahm meine Lederschürze von ihrem Haken und hängte sie mir um. „Wie siehst du überhaupt aus? Erst ziehst du dich an wie ein Junge und jetzt hast du auch noch kurze Haare. Jeder der dich anschaut würde denken zu seist ein Bengel." Wieder verkniff ich mir eine Antwort. Wenn die Besatzung vom Schiff dachte, ich wäre ein Junge wäre mir mehr als geholfen. „Kümmer dich um das Feuer. Wir brauchen noch Nägel für die Masten." Mit diesen Worten verschwand er im hinteren Teil der Schmiede.
Ich seufzte und nahm den Schürhaken von der Wand. Jeden Tag lief es so. Wenn ich wenigstens ordentlich bezahlt werden würde, aber mein Lohn reichte gerade mal für ein Laib Brot in der Woche, wenn ich mir noch Geld für anderes aufheben wollte. Immerhin konnte ich als Maus eine ganze Weile länger von dem Brot leben, als ich es als Mensch gekonnt hätte. Ich musste mich mit meinem vollen Gewicht an das Seil hängen, das den Blasebalg auseinanderzog. Der auf die Oberseite gebundene Stein blies kräftig Luft in die Glut. Die kleinen Kohlestücke leuchteten fast weiß und die Hitze schlug mir ins Gesicht.
Aus einer Kiste in einem der Regale zog ich mehrere Eisenstifte. Einen davon klemmte ich in die Spitze meiner Zange und schob ihn in die Glut. Wieder zog ich den Blasebalg auseinander und ließ ihn die Glut heißer machen, bis das Stück Eisen rot leuchtete. Der Hammer verursachte ein klirrendes Geräusch, als ich begann, den Stift in die Form eines Nagels zu klopfen.
Seit acht Jahren steckte ich jetzt hier fest. Als ich mit fünf Jahren angefangen hatte, nur zum Putzen und Wasser tragen. Später durfte ich auch immer wieder beim Schmieden helfen. Inzwischen machte ich das meiste alleine. Für Richard war ich mehr eine billige Sklavin, die die Arbeit machte, die er nicht machen wollte. Mit Kleinkram wie Nägeln wollte er sich nicht mehr abgeben.
Während ich den ersten Nagel schließlich mit einem lauten Zischen in den Wassereimer tauchte, wurde der Kai belebter. Durch die offene Tür konnte ich beobachten, wie das Handelsschiff wieder aus dem Hafen lief. Als ich dem dritten Nagel einen Kopf zurechtklopfte, lief das erste Schiff der Woche ein. Aber zu meiner Enttäuschung hatte es keine blauen Segel, sondern weiße.
Erst, als ich den fünften Nagel in die Aschekiste fallen ließ, sah ich es. Da war es. So schön wie eh und je. Ein zweimastiges Pinassschiff. Die Segel, die jetzt schlaff herunterhingen, waren blau. So blau, wie der Himmel an einem klaren Tag.
Mein Herz hämmerte. Ich konnte erkennen, wie Anweisungen gebrüllt wurden und Seile am Pier festgemacht wurden. Jetzt musste alles funktionieren. Ich hängte die Zange an die Wand. Daneben meine Schürze. Ein riesiger Kloß bildete sich in meinem Hals, als ich die Tür nach hinten aufschob.
Richard saß an seinem Schreibtisch und schrieb irgendetwas in eine Tabelle. Lesen konnte ich nicht wirklich. Nur ein paar Buchstaben. Genervt sah er auf, als ich vor ihm stand.
„Was ist?"
Ich atmete tief durch und versuchte den Kloß in meinem Hals herunterzuschlucken. „Ich möchte meinen Lohn."
Er zog die Augenbrauen nach oben. „Jetzt? Es ist der zweite Montag des Monats."
„Ja. Jetzt." Meine Brust verknotete sich.
„Du haust ab, oder?" Seine Augen verengten sich. Ich zuckte die Schultern.
Einen Moment passierte nichts. Dann zog er eine Schublade seines Schreibtischs auf. Zwei Münzen landeten vor mir auf dem Tisch. Ich hob sie auf.
„Aber..." Ich schluckte. „Das ist nur die Hälfte."
„Verschwinde.", fauchte er. Ich setzte zu einer Antwort an. „Verschwinde!", schrie er.
Der Schrei klang in meinen Ohren nach, als ich nach draußen in die Sonne des Hafens stolperte, meinen Beutel eng an meine Brust gedrückt. Ich ließ die beiden Münzen in den Lederbeutel an meinem Gürtel fallen. In den Gürtel hatte ich mit einem Nagel zusätzliche Löcher schlagen müssen, sonst hätte er mir nicht gepasst.

Mit weichen Knien lief ich über den Kai. Immer weiter auf das eindrucksvolle Schiff zu. Als ich nach rechts auf den Pier bog, spürte ich das Kribbeln, was ich immer spürte, wenn die Oceanwalker hier im Hafen lag. Der Name war in dunkelblauen Buchstaben an den Bug geschrieben. Lesen hätte ich ihn nicht können, aber im Laufe der Zeit hatte ich ihn von anderen aufgeschnappt.
Schließlich stand ich am unteren Ende der Planke, die vom Pier auf das Schiff führte. Und stand da. Und hatte keine Ahnung, was ich als nächstes tun sollte. Nervös kaute ich an meinen Fingernägeln. Ich sah, dass auf dem Deck Menschen herumliefen. Aber sollte ich einfach nach oben gehen? Sollte ich stehen bleiben? Ich wippte von einem Fuß auf den anderen. Vielleicht sollte ich doch wieder in die Schmiede zurück?

Oceanwalker || Woodwalkers/Seawalkers FanfictionWo Geschichten leben. Entdecke jetzt