Müde und dennoch voller Energie taumle ich voran. Meine Beine schmerzen von dem stundenlangen Tanzen und den wenigen Pausen, die ich mir gegönnt habe. Trotzdem will ich am liebsten einfach weitermachen. Frei sein. Tanzen schenkt mir Freiheit. Das Lächeln auf meinem Gesicht wird bei diesem Gedanken nur noch breiter.
Mein Blick wandert systematisch durch die Reihen, bewegt sich fließend von einem zum anderen, wie ich es vorhin auf der Lichtung getan habe. An Lino bleibt er hängen. Dieses Mal, weil er der einzige unter den ganzen glücklichen Gesichtern ist, der ernst schaut. Irgendwie nachdenklich und ... geschockt vielleicht.
Dieser Ausdruck geht mir nicht aus dem Kopf. Normalerweise ist er nach Aería auch immer hin und weg und nicht ... betrübt.
Ich starre die undurchdringliche Dunkelheit über mir an. Der einzige Lichtschimmer wirkt in diesem Netz der Dunkelheit wie ein winziger Tautropfen unerreichbar, obwohl der Vollmond die Nacht erhellt. Der Eingang in meine Höhle ist so schmal, dass die Helligkeit sich nicht ganz hindurchquetschen kann. Möglicherweise fürchtet sie die Finsternis und lugt ängstlich hinter der Wand hervor.
Der Gedanke will mich nicht loslassen, wie das klebrige Spinnennetz die Fliege, die die Perle des morgendlichen Nass erreichen will. Irgendwann holt mich die Erschöpfung schleichend ein, lässt meine Lider schwerer werden und mich in einen traumlosen Schlaf gleiten.
Als sich alle am späten Morgen aus ihren Räumlichkeiten zum Essen auf der Lichtung treffen ist der seltsame Ausdruck aus Linos Gesicht nicht verschwunden. Seine braunen Haare sind verstrubbelt und er wirkt, als hätte er nicht geschlafen. Die Augen fallen ihm ab und an zu, nur, um sie nach einigen Sekunden träge wieder zu öffnen. Seltsam. Er sollte doch genauso fröhlich wie der Rest von uns sein. So, wie jedes Mal eben.
Aranea setzt sich neben mich. Die Stühle auf denen wir hocken sind Baumstümpfe, der Tisch ein sehr großer umgelegter und geebneter Stamm.
Fragend sehe ich meine Freundin an. Sie folgt meinem Blick und zuckt ahnungslos mit den Schultern.
Seine grünen Augen suchen uns Kinder unruhig ab als würde er jemanden erwarten. Schließlich haben sich alle versammelt. Einige Minuten später springt Lino auf als wäre der Teufel höchstpersönlich in ihn gefahren. Sein Frühstück hat er nicht angerührt. Alle Augen liegen gespannt auf ihm, während er zu der großen Wurzel geht und sich darauf stellt. Der Versammlungsplatz. Gleich werde ich erfahren warum er so komisch ist und ob sich das mulmige Gefühl in meiner Magengegend bestätigt.
Neugierig stehen wir auf und gehen zu ihm. „Ok, Lino hat uns also was zu sagen. Schieß los", meint David gelassen, aber in seinen bernsteinfarbenen Iriden sehe ich dieselbe Verwirrung und Unsicherheit, die ich selbst spüre, wie einen kurzen Blitz aufleuchten.
Der Junge, der auf der großen Wurzel steht atmet tief ein und lässt seine Lider die Welt kurz vor ihm verbergen. Ich kann seine Nervosität fühlen, seine Angst. Die Situation ist angespannt wie ein Bogen. Wir warten, bis der Pfeil fliegt und sie lockert.
Er blinzelt. „Egal, was ich jetzt sage, ich will, dass ihr mir bitte bis zum Schluss zuhört. Ich weiß, es hört sich seltsam an. Wie eine Lüge. Ihr werdet denken, es kann nicht die Wahrheit sein, aber leider ist sie es. Ich will es auch nicht glauben und ich verstehe, wenn ihr es mir nicht glauben könnt, aber bitte, hört mir wenigstens bis zum Ende zu." Lino stockt. Seine Augen zucken umher, bis sie jemanden unter den elf vor ihm stehenden Kindern finden. Mich. Ich denke, er suchte Blickkontakt. Bestätigung.
„Die Feen verraten uns", sagt er schnell. Gemurmel unterbricht ihn. „Lügner", schreien Manche, die Meisten warten darauf, dass er fortfährt. Ich gehöre zu letzteren, beiße beunruhigt auf meiner Lippe herum und versuche meine Gedanken zu ordnen. Das kann nicht sein. Das kann einfach nicht sein. Die Feen lieben uns doch, lieben mich. Sie ... sie können uns nicht verraten. Nein, das kann nicht sein. Lino muss einen Witz machen.
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Astan - vom Ende
FantasyJeden Neumond verschwinden Kinder. Niemand weiß, wo sie sich befinden. Niemals ist je eines zurückgekehrt. Aber eigentlich sind sie in Astan.