Prolog

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Der Schützengraben ist überfüllt. Überfüllt mit Leichen. Männern, Frauen und Kindern. Überfüllt mit Emotionen die noch auf ihren blassen Gesichtern stehen. Überfüllt mit Waffen, die noch auf ihre Ziele gerichtet sind, um sie noch vor dem Schuss abzuknallen. Das was ihr Feind ist, ist auch seiner. Angst. Es ist nicht dieser Ausdruck, welcher auf ihren schreienden Mienen steht. Es ist keine Furcht, gar Bedrängnis. Es ist etwas viel hoffnungsvolleres.

Es ist Mut. Auch den wird er haben, wenn er so jaulend, flehend und räudig in der Ecke sitzt, wie ein bissiger Straßenköter, der den ganzen Tag lang nur versucht eines der tausend Weibchen auf der anderen Straßenseite zu besteigen. Doch das ist ihm hier bedauerlicherweise nicht möglich. Hier ist sein einziger Freund die Wand, die man auch, wenn man es so will, weiblich ist, definitiv nicht besteigen kann. Sie gehört ebenfalls zum Schützengraben. Sie ist genauso mutig, wie alle lebenden es zuvor  gewesen sind, sogar er. Sieht so der Himmel aus? Was hat ihn nur veranlasst in die Hölle zu kommen? Die Wand hällt stand, wehrt sich gegen ihn, gegen seine Tritte, Schreie und Faustschläge. So wie sie, hat er keine Angst. Er lacht sie aus, verspottet ihre hundert Steine und Gesichter. Sie haben keine Nasen, Münder oder Augen, sie sind wie der Teufel selbst. Er scheint sich nicht getäuscht zu haben:

Er ist in der Hölle gelandet, auch wenn er nicht weiß, ob das rote, oder weiße Ungeheuer sein Feind ist. 

"Ich weiß, du willst mich nur ärgern", flüstert er dem Weißen ruhig zu, "Aber das kann ich auch. Und deinen Herren gleich mit!"
Sein dröhnendes Lachen schallt innerhalb ein paar Sekunden von allen vier Wänden wieder, so als würden sie selbst spotten, würden sich allesamt gegenseitig auslachen.

Er hat ihre Antwort nicht kommen sehen. Und so rappelt er sich auf, um ihnen seine wunden Handknöchel an seinen Fäusten zu zeigen.

Eine weibliche Stimme dringt von der einen wieder, so laut, dass sie sich ihren Weg sogar bis zu der anderen, an der er noch immer, einen Kampf erwartend stand bahnt. Langsam schreitet er auf sie zu, bereit ihr mit ein paar weiteren Schlägen zu antworten, doch das tut er nicht. Stattdessen beugt er sich zu ihr vor, um durch eine ihrer zahlreichen Wunden, die er auf ihr hinterlassen hatte zu spähen.

Und schon wieder hat er nicht kommen sehen können, was dort auf ihn zutritt. Diese Ahnungslosigkeit ist wohl das geringste, was ihn in diesem Raum wahnsinnig macht.
Er verschärft seinen Blick und kann, wenn auch nur durch pure Anstrengung, Umrisse eines nicht da geglaubten Sinnes seines Feindes, wie auch Freundes erkennen.
Dämmerungsgrau.

***

Ein Bett. Ein Tisch. Ein Stuhl. Das Bild, welches sich ihr jedes Mal zeigt, wenn sie ihre spärlich eingerichtete Zelle betritt. Langsam geht sie zu der Wand neben dem Bett und lässt sich zu Boden sinken.

"Ich werde leben", murmelt sie unter geschlossenen Augen, "Ich werde leben."

Ein Bett. Ein Tisch. Ein Stuhl. Drei Möbel, die jedes einigermaßen gut oder noch so schlecht eingerichtetes Haus besitzt. Und trotzdem versteht sie nicht, warum sie in ihrer Zelle stehen. Denn wozu braucht sie ein Bett, wenn sie Nachts nicht schlafen kann, geplagt von den Bildern des Schlachtfeldes? Wozu braucht sie einen Stuhl, wenn sie jeden Tag, jedes Mal aufs Neue gebrochen zurückkommt, nicht in der Lage sich aufrechtzuerhalten, sodass nur der kalte Boden sie ihre Schmerzen vergessen lassen kann? Wozu braucht sie verdammt nochmal einen Tisch, wenn sie doch keine Blume daraufstellen kann, denn wo gibt es in dieser Ödnis aus Leid und Tod schon Blumen, das Lächeln der Erde? Wenn sie ihnen schon nur das Nötigste geben, wieso lassen sie ihnen dieses bisschen Normalität, welches an diesem Ort der Finsternis schmerzlich falsch wirkt?

"Wir werden leben."

Geräusch aus der eigentlich leeren Nachbarzelle dringen zu ihr hinüber. Sie dreht ihren Kopf zur Mauer und entdeckt ein kleines Loch in den Fugen. Es scheint zu strahlen. Ein Licht in der Finsternis. Etwas Freiheit in diesem Raum der Gefangenschaft. Sie beugt sich hinunter, um durch das Loch zu schauen. Und dann sieht sie ein Auge. Ein bernsteinbraunes Auge.

Bernsteingrau -- PAUSIERTWo Geschichten leben. Entdecke jetzt