Zeitung und Zigaretten

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„Ich muss jetzt aber auch wirklich los.", meint er zu seiner Frau und gibt ihr einen flüchtigen Kuss auf die Wange. Er steckt seine Geldbörse ein und verschwindet durch die Haustür nach draußen. Mit seiner braunen Aktentasche aus Leder macht er sich auf den Weg zum Bahnhof. Der eisige Wind raschelt in den Bäumen am Rand der Straße, wie ein Munkeln und Raunen begleiten ihn die Stimmen bis zur Bahnstation. Als er einen Blick auf seine silberne Uhr wirft, stellt er fest, dass er noch genug Zeit für einen Abstecher an den Kiosk hat. „Dieselbe wie immer?", nuschelt der breit gebaute Verkäufer mit einer Zigarette zwischen den Lippen. Er nickt und deutet auf eine Packung Marlboro Gold. „Eine Packung davon auch.", bittet er und öffnet sein Portemonnaie. „Tut mir leid, ich habe heute zu wenig Geld dabei. Ich gebe dir das Geld einfach morgen, in Ordnung?" Der erste Schweißtropfen bildet sich auf seiner Stirn. „Kein Stress, mein Freundchen.", grunzt der Verkäufer. „Danke vielmals", antwortet er erleichtert und nimmt dankbar das Handelsblatt und die Zigaretten entgegen. Draußen angekommen, zündet er sich die erste Zigarette mit zitternden Händen an und nimmt einen tiefen Zug bis er wieder klar denken kann. Der deutlich verspätete Zug trifft endlich ein und hindert ihn daran, eine zweite Zigarette anzustecken. In der Bahn setzt er sich einem jungen Pärchen gegenüber. „Ein Pärchen mit Zukunft", denkt er, „das noch sein halbes Leben vor sich hat." Mit diesem Gedanken schlägt er die Zeitung auf und sein aufmerksamer Blick wandert über die Seiten mit Stellenanzeigen. Jede einzelne wird sorgfältig durchgeschaut und das Wichtigste mit einem grünen Textmarker angestrichen. „Nächste Station: Hauptbahnhof. Ausstieg in Fahrtrichtung links. Vorsicht beim Abstand zwischen Zug und Bahnsteigkante.", dröhnt die unerträglich schrille Stimme durch das Abteil und reißt ihn aus seinen Gedanken. Als er aus dem Zug aussteigt, wirft er noch einen letzten Blick auf das junge Pärchen, welches er schon im Zug beobachtete. Anscheinend wollen die beiden verreisen. „Wo es wohl hingehen soll?", fragt er sich. Er macht auf dem Absatz kehrt und geht mit großen Schritten in die andere Richtung. An einer Bank angekommen, macht er es sich gemütlich, denn er wird hier wieder einige Stunden verbringen, bis er spätnachmittags nachhause fährt. 

Nachdem er die Zeitung drei weitere Male durchgelesen hatte, beobachtet er einen Obdachlosen, der in zerrissenen Klamotten in den Mülleimern nach Pfandflaschen sucht. „Ob ich wohl so enden werde?", überlegt er sich. Von dieser Vorstellung angeekelt, sucht er nach Ablenkung. Er steckt sich seine zweite Zigarette an und inhaliert den Rauch. Sein ruhiger Blick fixiert die Gleise und die Gedanken driften erneut ab in eine ferne Welt. „Vielleicht kann ich später noch einen kleinen Abstecher zum Antiquitätenladen machen und meine silberne Uhr verkaufen", denkt er sich. Es ist zwar ein Erbstück seines verstorbenen Vaters, aber irgendwie muss er sich ja die Zeitung und Zigaretten leisten können. Weiterhin beobachtet er aufmerksam die einfahrenden Züge und schätzt ab, wie schnell eine Bahn wohl einfährt. Vertieft in seine Gedanken nimmt er aus dem Augenwinkel eine Gestalt wahr, welche nur wenige Meter neben ihm steht und sich langsam in Richtung Gleise bewegt. Ihm fällt auf, dass der Fremde denselben leeren Blick auf die Gleise richtet, wie er selbst es tut, wenn er über den Ausweg aus allen Problemen nachdenkt. Allerdings nähert sich der fremde Mann dem Gleis gefährlich. „Achtung an der Bahnsteigkante. Zug fährt ein.", hallt die Lautsprecherstimme durch den Bahnhof. Er muss jetzt handeln – jetzt! 

Im letzten Moment kann er den Fremden am Handgelenk zurückreißen, bevor er auf die Gleise vor den einfahrenden Zug stürzt. Unter dem Hut und langen Mantel kann er einen Mann mittleren Alters erkennen. „Was fällt Ihnen ein?!", keift der fremde Mann. „Kümmern Sie sich gefälligst um Ihre eigenen Angelegenheiten!" Er guckt verdutzt und will etwas sagen, doch der Fremde kommt ihm zuvor: „Sie haben doch keine Ahnung, wie es ist, eine ahnungslose Familie ernähren zu müssen, während man seine geliebte Arbeit verloren hat." Der zweite Schweißtropfen fließt seine Stirn herunter und er meint zögerlich: „Jetzt machen Sie sich mal keine Sorgen, das wird schon alles wieder."

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⏰ Letzte Aktualisierung: Oct 31, 2020 ⏰

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