Die aufgehende Morgensonne färbte den Himmel langsam tiefrot und das Schwarz der Nacht verschwand allmählich. Der nach wie vor allgegenwärtige Nebel lag über der Stadt, begann aber langsam zu zerfasern. Er würde sich in den kommenden Stunden auflösen, nur um dann am frühen Abend wiederzukehren und die Stadtbewohner erneut mit Kurzsichtigkeit zu schlagen. Doch vielleicht wäre es für die Bewohner der Stadt angenehmer ihre einstmals schöne Stadt nicht in strahlendem Sonnenschein ertragen zu müssen. So waren sie jedoch dem überall sichtbaren Zerfall ausgesetzt, bis der Nebel am Abend wieder kam und seinen Schleier des Vergessens über den Anblick legte.
Gerüchten zufolge war die Stadtregierung für den seltsamen Nebel verantwortlich, jedoch wagte niemand offen darüber zu reden. Je nachdem wen man fragte hing er jedoch mit einem gescheiterten, oder auch geglückten Experiment zusammen oder war eine reine Schreckensmaßnahme. Wieder andere Stimmen behaupteten er sei mit Lachgas und anderen Substanzen versetzt um die Bevölkerung bei Laune zu halten. Außerdem seien wohl auch abhängig machende Stoffe darin enthalten um eine Abwanderung zu verhindern. Hinweise oder gar Belege für diese Theorien gab es natürlich nicht. Und auch wenn die Regierung jedweden Schnüfflern genauestens auf die Finger schaute und hin und wieder einige von ihnen verschwanden, tat sie doch nichts um die Gerüchte einzudämmen.
Überhaupt tat sie recht wenig, so lange es nicht darum ging die Kontrolle zu behalten. Dafür jedoch tat sie alles.
Und doch tanzte eine Person ihr dabei immer wieder auf der Nase herum.
Dass es sich dabei um eine recht junge Person handelte machte die ganze Sache nicht besser. Und dass diese Person sich bereits in Regierungsgewahrsam befunden hatte und - nach offizieller Version - nur aus mangelnder Kompetenz der Verantwortlichen entkommen konnte, trieb das Ganze auf die Spitze.Genau diese Person lag gerade auf dem Dach eines Supermarktes und genoss die ersten Sonnenstrahlen auf ihrer Haut. Sie lag auf dem Rücken, die Beine überschlagen, hatte die Augen geschlossen und die Hände hinter dem Kopf verschränkt.
Sah man mal davon ab, dass sie sich auf dem Dach eines Supermarktes sonnte, wirkte sie auf den ersten Blick recht normal. Es handelte sich augenscheinlich um einen einheimischen, jungen Mann. Weder besonders groß oder muskulös, noch besonders klein oder schmächtig, im Gegenteil, er wirkte auffallend unauffällig. Auf den zweiten Blick fielen die vielen Eierkartons auf, die sich neben ihm stapelten. Außerdem fiel auf, dass sich ein Sandwich wie von Geisterhand zu seinem Mund führte und sich dann wieder auf seiner Brust ablegte.Seine dunklen Klamotten hoben sich deutlich vom hellen Untergrund ab und er wirkte fast wie einer der Schlagschatten der Klimaanlagen auf dem Dach. Auch wenn diese etwas geradere Kanten hatten.
Nachdem er sein Brot aufgegessen hatte, konnte man förmlich zusehen, wie er sich aus dem Genuss heraus in Gedanken stürzte und darin versank; das leichte Lächeln auf seinen Lippen verschwand, seine Augenbrauen schoben sich zusammen und er fing an auf seiner Unterlippe herumzukauen.
Schließlich gab er seine entspannte Haltung am Boden auf, setzte sich und schob sich dann über den Boden zu einer der Klimaanlagen, wo er sich anlehnte. Er zog die Beine an, legte seine Arme darauf und starrte leer in den Himmel. Wolken trübten das Firmament. Doch seine Umwelt hatte er inzwischen komplett ausgeblendet. Zu sehr rumorte die Vergangenheit in ihm. Schließlich griff er nachdenklich in die Tasche seiner eng anliegenden Lederjacke und zog ein dünnes Portmonnaie hervor. Kurz darauf hielt er einen Ausweis in der Hand. Es war seiner. Und doch war es nicht er. "Kyle Munroe" stand auf dem Ausweis. Und er war Kyle. Und doch war er nicht mehr Kyle. Der Ausweis war ebenso ein Relikt aus vergangenen Zeiten, wie sein Name. Beides war schon ewig nicht mehr benutzt worden.Kyle war der kleine Siebzehnjährige, der ein halbwegs glückliches Leben geführt hatte, bis die Agenten ihn eines Nachts aufgegriffen und mitgenommen hatten. Mit diesem Menschen hatte er schon lange nichts mehr gemein. Weder die Familie, noch die Freunde. Weder die hübsche fast-Freundin, noch den normalen Großstadt-Alltag. Nicht einmal mehr die Möglichkeit normal einkaufen zu gehen war ihm geblieben. Und so war auch das Portmonnaie zu lediglich einem Erinnerungsstück und Träger weiterer Erinnerungsstücke verkommen.
Selbst das Lichtbild auf dem Ausweis zeigte einen völlig anderen Menschen. Damals war er noch kein groteskes Monster gewesen. Kein besserer Frankenstein. Er hatte auch viele Erfahrungen noch nicht gemacht und Fähigkeiten nicht erworben. Er war jung und unschuldig gewesen. Heute dagegen quälten ihn Menschen. Die Menschen, die ihr Leben wegen ihm lassen mussten. Und auch heute Nacht war wieder Blut geflossen, das auf seine Rechnung tropfte. Er konnte nichts dafür - und doch war er der Auslöser und Verursacher.
Er dachte an Tom. Der junge Wachmann war der erste einer langen Liste gewesen. Dabei hatte er nur seinen Job gemacht. In der Durchführung war er vielleicht nicht der Hellste gewesen, doch das rechtfertigte seinen Tod nicht im geringsten. Welcher Mensch ist schon ohne Fehler?
Kyle schloss die Augen und lehnte seinen Kopf an den Klimaanlagenkasten. Dann dachte er zurück an den Abend, wo sich alles geändert hatte. Einen großen Anteil dieser Nacht hatte er in einer ganz ähnlichen Haltung verbracht. Es war die Nacht in der er alles verloren hatte. Die Stunde, in der der Grundstein gelegt worden war. Der Grundstein mit dem alles angefangen hatte - der zugleich der Grabstein von Kyle Munroe und die Geburtsurkunde von etwas völlig anderem war:...
~ ••• ~
Mit quietschenden Reifen kam der schwarze Kastenwagen vor ihm zum stehen. Beinahe hätte er ihn erwischt. Die hellen Scheinwerfer blendeten seine an das Zwielicht gewöhnten Augen. Doch er hörte wie sich die schweren Schiebetüren des Autos auf beiden Seiten öffneten. Die Nacht war wolkenverhangen und dunkel und so konnte er im schwachen Licht der spärlichen Straßenlaternen lediglich mehrere dunkle Schemen ausmachen, die aus dem Auto stiegen und auf ihn zu kamen. Ihm wurde heiß. Sein Herz klopfte bis zum Hals. Er wollte ansetzen etwas zu sagen. Wollte sich entschuldigen. Seine Finger waren eiskalt. Seine Hände schweißnass. Wie hatte er das Auto nicht kommen sehen können? Sein Mund wurde trocken. Warum musste er auch immer mit dem Board auf der Straße fahren? Noch dazu ohne Beleuchtung und in dunklen Klamotten. Kein Wunder, dass ihn der Fahrer nicht gesehen und somit fast angefahren hatte. Kalter Schweiß trat ihm auf die Stirn.
Doch bevor er etwas sagen konnte waren zwei der dunklen, vermummten Gestalten bei ihm und packten ihn an den Armen. Panik lähmte ihn. Er wollte schreien. Weglaufen. Sich wehren. Doch er war in Schockstarre verfallen. Er schaffte es gerade noch so überrascht aufzukeuchen, als plötzlich die Welt unter ihm wegkippte. Zwei weitere Männer waren von hinten gekommen und hatten ihn an den Füßen gepackt. Zu viert trugen sie ihn mit schnellen Schritten ins Auto. Tränen traten in seine Augen. Was ging hier vor? Er wurde auf einen Sitz gedrückt und angeschnallt. Dann drückte der Fahrer das Gaspedal durch und der Wagen machte einen Satz. Ein hölzernes Krachen ertönte splitternd, als er dabei das Board unter seinen Reifen zermalmte. Keine Minute hatte der ganze Vorgang gedauert. Doch Kyle nahm es kaum wahr. Er saß mitten in der Nacht auf der Rückbank eines fremden Autos, eingeklemmt zwischen zwei breitschultrigen Männern mit schwarzen Masken. Ihm gegenüber auf einer umgedrehten Rückbank saßen zwei weitere maskierte Männer.
Es war alles so surreal. Er wollte nur noch in sein Bett. Er zog die Beine an, legte die Arme darum und ließ seinen Kopf auf die Knie fallen. Tränen flossen nun ungehindert über sein Gesicht.
Eben war die Welt doch noch in Ordnung gewesen...🕷️
Willkommen zu meinem Buch Die Spinne. Ich hoffe dieser kleine Teaser hat euch gefallen. Lasst mir in jeden Fall gerne eure Meinung da.
Was erwartest du von der Geschichte?
Wie findest du Kyle? Ist er dir sympatisch?
Ein bisschen jämmerlich vielleicht, oder?
Einen tollen Helden mimt er jedenfalls (noch) nicht.Was denkst du ist passiert, dass die Miliz ihn jagt?
Hast du Fragen / Verständnisprobleme?
Ich werde Ende des Jahres anfangen weitere Teile der Geschichte zu veröffentlichen. Bis dahin wünsche ich dir alles Gute und eine gesegnete Zeit.
Bless you.
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Die Spinne - Teaser
FanfictionAls der siebzehnjährige Kyle plötzlich mitten auf der Straße von vermummten Männern in einen Van gezogen und entführt wird, weiß er noch nicht, dass er Jahre später als "Die Spinne" berühmt und berüchtigt werden würde. Und er hätte es sich auch niem...