Straßenjunge

506 12 0
                                    

Lennox war allein. So wie eigentlich immer, aber dieses Mal war es anderes. Er war allein, allein. Er war nicht mal mehr zu Hause. Falls man das noch zu Hause nennen konnte, immerhin hatte sein Vater ihn rausgeschmissen und davor konnte man das eigentlich auch nicht so nennen, sein Vater hatte ihn oft geschlagen. Er hat Lennox rausgeschmissen, weil er ihm die Meinung, die Wahrheit, gesagt hatte. Sein Vater war Trinker und sturz besoffen gewesen, aber er hatte ihn einfach vor die Tür gezerrt. Lennox ist dann noch einmal rein, hat seine Gitarre, Wechselklamotten, sein gesamtes Erspartes, was er noch in seinem Sparschwein hatte, und noch ein paar andere Sachen geholt und war einfach raus und nicht noch mal zurück. Wegen seiner merkwürdigen „Gabe" hatte sein Vater ihn nicht mehr gesehen. Das war jetzt vier Tage her und Lennox fand es jetzt schon schrecklich auf der Straße zu leben, wollte aber auf keinen Fall zu seinem Vater zurück. Niemals. So scheiße es auch auf der Straße war. Sein Magen knurrte, während er die Straße entlang zum Hauptbahnhof von Lübeck ging. Kein Wunder, das letzte Mal, das er etwas gegessen hatte, war gestern Mittag, also vor knapp einem Tag. Bis gestern hatte er sich das, was er noch an Essen mitgenommen hatte einteilen können, aber dann war es aufgegessen gewesen. Es war einfach zu wenig gewesen und er hatte Hunger gehabt. Ein vorbeilaufender Mann rempelte Lennox an. Es war nicht das erste mal an diesem Tag gewesen, die meisten Leute übersahen ihn einfach und sahen ihn nur wenn er sie auf  sich aufmerksam machte, indem er sie einfach ansprach oder so. Lennox sah in seiner Tasche nach. Das Geld, was er noch in seiner Tasche hatte reichte gerade noch so für ein belegtes Brötchen und einen Tee, danach war es aufgebraucht. Aber Lennox wollte nicht stehlen. Noch nicht. Er würde nicht darum herumkommen. Eigentlich hatte er noch mehr Geld gehabt, aber ein anderer Straßenjunge hatte ihm das Meiste geklaut und er hatte sich auch noch ein wenig was zu Trinken gekauft. Etwas warmes. Er durfte kein kaltes Wasser trinken, auch wenn es ihm das Leben auf der Straße erleichtern würde, aber das kalte Wasser machte ihn krank. Er war noch ganz klein gewesen als es das erste Mal passiert war. Sein Vater war damals noch anders gewesen, noch kein Trinker. Er war mit Lennox zur Lübecker Bucht gefahren, aber sobald Lennox im Wasser war fingen die Schmerzen an. Sein Arzt hatte ihm damals Antibiotika verschrieben, aber es hatte nichts gebracht. Lennox war lange krank gewesen. Niemand hatte ihm geglaubt, dass das ganze mit dem Wasser zu tun hatte, also hatte er aufgehört darüber zu reden und einfach selbst aufgepasst, dass er nicht in Regen oder anderem kalten Wasser in Berührung kam. Auf der Straße war das ganze noch mal extra schwierig, aber bis jetzt war noch nichts passiert. Damals als es zum ersten Mal passierte war seine Mutter schon weg. Sein Vater wollte ihm nie etwas über sie erzählen und immer wenn er ihn zu ihr etwas fragte, war er wütend geworden und hatte gebrüllt, sie hätte ihn und Lennox verlassen, weil sie sich nur für sich selbst interessiert hatte. Lennox konnte das nicht wirklich glauben, denn die wenigen Erinnerungen, die er an sie hatte, waren gut, schön. Sie hieß Xenia. Von ihr hatte er unter Anderem sein dunkles Haar und seine azurblauen Augen geerbt. Und seine Fähigkeit Leute Dinge vergessen zu lassen, wenn er ihnen in die Augen sah und ihnen sagte, was sie vergessen sollten, und, dass er von anderen Leuten übersehen wurde. Er musste es von seiner Mutter haben, von wem denn sonst, von seinem Vater bestimmt nicht, der wurde von niemanden übersehen. Er war nicht „unsichtbar". Und auch wenn er sich nicht wirklich darüber bewusst war, hielt er, wo auch immer er war, nach seiner Mutter Ausschau. Lennox wurde aus seinen Gedanken gerissen, als er vor dem Hauptbahnhof zum Stehen kam. Dort drinnen würde er sich etwas zu essen kaufen und dann in den nächstbesten Zug steigen. Er würde schwarzfahren müssen, aber er hatte keine Angst erwischt zu werden, es sah ihn sowieso keiner. Nachdem er sich ein Sandwich und einen Tee mit seinem letzten Geld gekauft hatte, suchte er sich einen Zug und stieg ein. Dieser hier würde bis nach Hamburg fahren. Er würde dort ein paar Tage bleiben und dann weiter fahren. Er musste noch ein wenig warten, also setzte er sich auf einen der Sitze am Bahnsteig und aß. Nachdem er sein Sandwich aufgegessen, ein wenig vom Tee getrunken und den Rest in seine Thermosflasche geschüttet hatte, nahm er seine Gitarre in die Hand und spielte auf ihr. Seine alte, schwarze Gitarre war sein wertvollster Besitz und sein bester Freund. Er wäre niemals ohne sie irgendwo hingegangen. Nach zehn Minuten kam der Zug. Lennox stieg ein. ‚Tschüss, Lübeck. Hallo, Welt.', dachte er noch, dann fuhr der Zug los.

Alea Aquarius OneshortsWo Geschichten leben. Entdecke jetzt