Unvergesslich

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Lennox war seit ein paar Tagen in Amsterdam. Er hatte sich unter einer Brücke einquartiert. Tagsüber streifte er meistens durch die Stadt und spielte irgendwo Gitarre für sich, nachts lag er in seinem Schlafsack und hatte Angst von anderen Straßenkindern oder Obdachlosen angegriffen zu werden. Heute saß er vor einem Restaurant hinter einer Meerjungfrauenstatue und spielte eine traurige Melodie. Die Leute beachteten und hörten ihn nicht, aber das war normal, er hatte sich daran gewöhnt und manchmal konnte es auch ganz schön praktisch sein. Er war völlig in seine Melodie versunken, doch als er den Kopf hob sah er ein Mädchen. Ihre Blicke trafen sich trotz der vielen Menschen in der Einkaufsstraße sofort. Wie als wäre es Schicksal gewesen. Die Augen des Mädchens waren von einem klaren Grün und es schien, als würde etwas in ihnen glitzern. Etwas, dass in ihr schlummerte und eigentlich herauswollte, was ihn in gewisser Weise irritierte. Genauer gesagt irritierte ihn die Tatsache, dass er dieses Glitzern nur allzu gut kannte. Er sah es jedes Mal, wenn er in den Spiegel sah. Die Leute kamen näher. Lennox spielte einfach sein Lied zu Ende und als es vorbei war, klatschten das Mädchen und die anderen drei- ein weiteres Mädchen in etwa dem gleichen Alter wie er und das grünäugige Mädchen, ein etwa achtzehnjähriger und ein etwa neun- oder zehnjähriger Junge-, schienen sich allerdings zu wundern, warum niemand anders klatschte. Lennox dagegen wunderte sich, warum sie ihn bemerkt hatten. Der kleine Junge warf ihm eine ein Euro Münze zu, aber er fing sie nicht auf. Er war so etwas einfach nicht gewohnt. Der ältere Junge sprach ihn auf Holländisch an, aber Lennox beachtete ihn nicht und fing an seine Gitarre zu stimmen. Er hatte ein Pokerface aufgesetzt, damit die vier nicht sahen, wie sehr es ihn verwirrte, dass sie ihn bemerkt hatten, hoffentlich verschwanden die bald, das Mädchen machte irgendetwas mit ihm, was er nicht genau verstand und das wiederum machte ihn irgendwie auf irgendeine Weise nervös. Der Junge sprach ihn noch auf Englisch, Französisch und schließlich auf Deutsch an. „Bist du weggelaufen? Ich sehe doch an deinen Klamotten, dass du kein zu Hause hast." Das reichte Lennox, am Ende verpfiffen die ihn an der Polizei und denn würde er wieder zu seinem schrecklichen Vater kommen oder in irgendeine Pflegefamilie. Bloß nicht! Er packte seine Gitarre, hängte sie sich über den Rücken und wollte gerade gehen als der Junge ihm „Hey, ich hab dich was gefragt!" zurief. ‚Gut, wenn ihr es nicht anders wollt', dachte Lennox und sah ihm in die Augen, seine azurblauen Augen nahmen den Jungen in ihren Bann und er sagte leise: „Ich war gar nicht hier." Danach waren das Mädchen mit den Dreadlocks und der dunklen Haut und der neunjährige Junge mit den Sommersprossen und den roten Haaren an der Reihe. Als letztes war das Mädchen dran. Ihre grünen Augen faszinierten ihn. Sanfter als bei den anderen sagte er auch zu ihr: „Ich war nie hier." Er konnte sich allerdings danach nicht wirklich von ihren Augen losreißen und noch etwas irritierte ihn: das Mädchen schien ihn nicht zu vergessen. Wie konnte das sein? Seine Augen verengten sich und er schüttelte den Kopf. Dann sagte er seinen Satz nochmal, diesmal stockte er aber ein bisschen. Was war los mit ihm? Was machte das Mädchen mit ihm? Mit leicht zusammengezogenen Augenbrauen wandte er sich ab und verschwand in der Menschenmenge auf der Straße, als er sich noch einmal umdrehte, sah er, dass die vier gerade in das Restaurant gingen. Er machte sich auf den Weg. Er hatte kein wirkliches Ziel, er wollte nur schnell weg von diesen Leuten, genauer gesagt von dem Mädchen. Und trotzdem schweiften seine Gedanken zu dem Mädchen. Er sah sie genau vor Augen, mit ihren langen schwarzen Haaren, der blassen Haut, dem hübschen Gesicht und natürlich ihren unglaublichen grünen Augen. Hatte sie diese Verbindung auch gespürt? Er hatte nicht bemerkt, dass er immer langsamer geworden war bis er schließlich stehen blieb. Irgendetwas zog ihn zurück zu ihr. Er drehte um und lief zurück zum Restaurant. Er musste sie noch mal sehen. Komischerweise konnte Lennox nicht anders als umzudrehen. Dann stand er da, auf der anderen Straßenseite gegenüber vom Restaurant. In dem Moment kam sie herausgelaufen und wieder trafen sich ihre Blicke sofort. Sie hielten Augenkontakt bis Lennox sah, dass die anderen drei sich auch zu ihr stellten und ihn ansahen, nachdem das Mädchen sie auf ihn aufmerksam gemachte hatte. Wieso war er nochmal umgedreht? Die würden ihm nur Ärger machen! Er drehte sich um und rannte weg. Er wollte zu seiner Brücke zurück als er bemerkte, dass sie ihm folgte. Er rannte schneller, doch sie schien fest entschlossen zu sein ihn einzuholen und irgendein Teil von ihm schien das-wenn er ehrlich war- auch. Lennox sprang über einen Zaun und lief einen Abhang hinunter zu seiner Brücke. Hinter ihm hörte er das Mädchen fluchen, sie schien am Zaun hängen geblieben zu sein. Doch dann hatte sie sich losgerissen und folgte ihm weiter. Als er unter der Brücke war blieb er stehen und drehte sich um. Es hatte keinen wirklichen Zweck mehr vor ihr wegzulaufen, sie würde ihm trotzdem folgen, dass spürte er. In gewisser Weise war er außerdem auch neugierig darauf, was sie zu sagen hatte. Sie kam um die Ecke gerannt und blieb abrupt vor ihm stehen. Grün kreuzte blau. In ihren Augen konnte man hundert Fragen sehen und in seinen wahrscheinlich auch. Und wieder hatte er so ein komisches Gefühl, wie als würden sie sich kennen, was totaler Quatsch war, er hatte sie noch nie gesehen! Dann begann das Mädchen etwas atemlos zu sprechen: „Wer bist du?"

Alea Aquarius OneshortsWo Geschichten leben. Entdecke jetzt