42 Wohin?

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*Zuras Sicht*

Stunden später kam ich wieder zu mir. Draußen dämmerte es gerade erst. Vielleicht war ich ja pünktlich für das Frühstück? Entgegen des Protests meines Körpers kam ich auf alle Viere. Mein Schädel brummte gefährlich. Eine Behandlung mit einem Presslufthammer wäre dagegen eine Wohltat. Dass sich mein Körper bewegte rief meinen Magen zu einem intensiven Protest hinzu. Schlagartig war mir schlecht. Immer stärker wurde das Bedürfnis mich zu übergeben. Doch wurde das überschattet von den Schmerzen, die überall an meinem Körper ihren Ursprung fanden. An viel zu vielen Stellen klebte Blut. Ob ich mich erstmal waschen konnte? Sollte ich mich waschen?

Mit Hilfe der Wand kam ich auf die Füße. Der Türrahmen half mir in den Flur. Schwindel machte es deutlich schwieriger mich zu orientieren. Mal ganz davon abgesehen, dass ich irgendwie das Gleichgewicht halten musste. Ein stummer Schrei erzwang sich seinen Weg. Ich bestand nur noch aus Schmerz.

"Jämmerlich. Du bist wirklich unnütz. Dass du den ganzen Tag schläfst du faule Schlampe. Räum hier gefälligst auf und dann kümmer dich um mein Essen! Los! Oder soll ich nachhelfen?"

"Nein.", viel zu schnell sprang die Antwort über meine Lippen.

Alle Warnungen meines Körpers in den Wind schlagend ließ ich von der Wand ab: "Ich kümmere mich sofort darum."

Nur damit er nicht wütend wurde, dass ich zu langsam wäre, lief ich in die Küche. Jede Bewegung schmerzte als wäre ich in einer Müllpresse eingesperrt. So schnell wie möglich räumte ich seinen Müll fort. Er durfte bloß keine weiteren Grund finden wütend zu werden. Hoffentlich hatte er nicht noch mehr getrunken. Während ich das Wasser für den Reis in den Topf fließen ließ, sah ich aus dem Fenster. Es war die Abenddämmerung, nicht die Morgendämmerung. Wieso hatte er mich - FUCK! Beim Abstellen des Topfes zog es gefährlich in meiner Rippengegend. Mein Vater hatte mich nicht liegen lassen. Offensichtlich hatte er in meinen Brustkorb getreten, um mich wach zu kriegen.

Den Reiskocher stellte ich mit Timer, dann holte ich eine Pfanne heraus. Ich plante nur schnell etwas Hähnchenfleisch zu braten. Ihm reichten so einfache Gerichte. Früher hatten wir auch nie aufwendig gekocht. Früher hieß es auch nicht wir sondern ich. Genau wie heute. Nicht so wie bei den Sugawaras...

Die Sugawaras.

Als hätte mich jemand mit eiskaltem Wasser übergossen war ich in der Realität aufgewacht. Ich war keine sechs Jahre mehr.

"Wie lange soll ich denn noch auf mein Essen warten?"

Ganz ruhig drehte ich mich um. Er stand in der Tür, die Arme verschränkt. Dieser Mann... dieses Ungeheuer...

"Du hast keine Macht mehr über mich."

Belustigt zog er einen Mundwinkel nach oben: "Oh, bist du dir da sicher?" Drohend machte er einen Schritt in die Küche: "Soll ich dir Vernunft einprügeln? Oder zeigst du deinem Vater jetzt endlich Respekt und kochst. Wegen dir war ich immerhin Jahre im Knast."

Um ruhig zu bleiben, verstärkte ich den Griff um die Pfanne: "Weshalb denkst du, dass dein Leben mehr Wert wäre, als meins?"

Jetzt lachte er tatsächlich: "Was lässt dich denken, dass dein Leben überhaupt irgendetwas wer wäre? Du bist ein Parasit! Seit deiner Geburt hast du nichts als Unheil gebracht!"

"Du hast keine Macht mehr über mich. Ich lasse nicht zu, dass du mein Leben auch nur einen Moment länger ruinierst!"

In diesem Moment brannten sämtliche Sicherungen bei ihm durch: "ICH SOLL DEIN LEBEN RUINIERT HABEN?! NA WARTE DU-"

Rasend vor Wut stürmte er auf mich zu. Mit einem dumpfen Laut landete er auf dem Boden. Adrenalin rauschte durch meinen Körper. Klang wie ein Störgeräusch in meinen Ohren. Meine Arme zitterten. Blut strömte aus der Platzwunde an seinem Kopf. Blut tropfte von der Pfanne, die ich mit beiden Händen wie einen Tennisschläger hielt. In der Sekunde, in der ich realisierte, was ich getan hatte, übernahm mein Fluchtinstinkt die Führung. 

Mit einem Satz war ich über ihn hinweg. Raus aus der Küche. Aus der Wohnung. Aus dem Haus. Raus. Raus in die Nacht. Der Schrecken, der in meiner Wohnung auf mich wartete, war schlimmer als die Dunkelheit der Nacht.

Wohin?

*Koshis Sicht*

Zum bestimmt hundertsten Mal nahm ich mein Handy in die Hand. Zura hatte sich immer noch nicht gemeldet. Sie war auch nicht in der Schule gewesen. Ob sie wieder krank war? Gestern hatte sie zwar kein Fieber gehabt, allerdings wirkte sie nicht sehr klar. Sehr müde auch. Vielleicht war sie tatsächlich krank.

"Ist alles okay, Schatz?"

Überrascht sah ich meine Mutter an: "Ähm ja sicher."

"Du schaust gerade zum zehnten Mal auf dein Handy. Und das innerhalb von zwei Minuten. Außerdem sehe ich genau, wenn bei meinem Kind etwas nicht stimmt."

"Ach. Ich mache mir nur Gedanken. Kiryu war heute nicht in der Schule."

Sofort setzte sie ein besorgtes Gesicht auf. Natürlich. Ihr Mutterinstinkt meldete sich, wenn es um Zura ging.

"Ich hoffe sie ist nicht schlimm erkrankt."

Die Türklingel kam meiner Antwort zuvor. 

"Ich geh schon, Mama.", lächelnd tätschelte ich ihre Hand und ging zur Tür. Wer konnte das um die Uhrzeit sein? Papa würde doch nicht klingeln. Oder hatte er etwa seine Schlüssel vergessen?

My guardian AngelWo Geschichten leben. Entdecke jetzt