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Nie hätte Lia gedacht, dass eine blöde Kette sie mal so in Schwierigkeiten bringen würde. Seufzend starrte sie hinunter auf das eisige Meer. In ihrer Kindheit hatte sie es geliebt hier zu sitzen und den Wellen zu lauschen, hatte den Regen genauso genossen wie den Nebel. Aber damals hatte sie es auch absolut umwerfend gefunden Schokolade in ihren Kartoffelbrei zu mischen, was einen Schatten über ihren angeblich guten Geschmack warf. Jetzt bedrückte sie das Tosen des Meeres unter ihr nur noch. Unermüdlich brandeten die Wellen gegen die Klippe und doch würde ihre Arbeit erst Jahrzehnte später zu erkennen sein. Zu lang für Lia. Dann wäre sie schon längst nicht mehr in diesem Niemandsland, jedenfalls hoffte sie darauf. Nur war ihr die Hoffnung definitiv nicht freundlich gesinnt, was an sich schon widersprüchlich war. Aber dass der Verlust der Kette so schnell bemerkt wurde, kurz nachdem sie sie gestohlen hatte, dass musste einfach Hass sein. Eine Welle donnerte gegen den Felsen, wie um ihre gedachten Worte zu unterstreichen. Oder vielleicht war es kein Hass sondern das Drama einer Teenagerin, die nicht so gerne zu ihren Taten stehen wollte. Lia ballte die Hände zu Fäusten. Verdenken konnte es ihr auf jeden Fall niemand. Zuerst hatte sie versehentlich die Kette des Bürgermeisters gestohlen, eigentlich war ihr Ziel seine Brieftasche gewesen, aber die Kette war es, die sie erwischt hatte, und dann hatte sie erfahren, dass diese ein uraltes Erbstück war, was wohl mehr emotionalen Wert hatte als materiellen, sonst würde man sie ja nicht mit sich herumtragen. Zu Lias Leidwesen hatte der Bürgermeister auch noch ein Kopfgeld auf den Dieb der Kette ausgesetzt. Eigentlich war es nur ein Finderlohn, aber Diebstahl war strafbar, also würde auf Lia wohl ein nicht ganz so nettes Gespräch mit der Polizei warten. Die Sterne über ihr schienen sie in ein sanftes Licht zu tauchen und zu ermahnen, das Richtige zu tun. Aber mit dem Richtigen hatte Lia schon ihr Leben lang Probleme gehabt. Es war nicht so, dass sie nicht verstand, dass die Menschen vermutlich Regeln brauchten, was den das Richtige war. Vielmehr verzog sich etwas tief in ihrer Seele, wenn sie daran dachte, dass all diese Dinge nur von anderen Menschen festgelegt worden waren, die irgendwann beschlossen hatten, was denn jetzt richtig war. So war die Jagd nach dem Fuchs einmal ein Sport in Adelshäusern gewesen und auch jetzt konnte der Jäger sie immer noch töten, wenn der Bestand zu groß wurde, weil die Menschen das Ökosystem zerstört hatten. Beides war in Lias Augen nicht annähernd richtig, aber die Gesellschaft erzählte ihr, dass es das war. Während sich ihre Fingernägel schmerzhaft in ihre Handballen gruben und sie ansonsten vollkommen reglos auf die Weite des Meeres hinaus starrte, begann ein Sturm in ihrem Inneren zu entfachen, als sich das Domino in ihrem Kopf in Bewegung setzte, unaufhaltsam. So viele Dinge waren noch richtig, obwohl sie eigentlich falsch waren, die Dominosteine in ihren Gedanken wurden nicht langsamer, sondern behielten ihren Schwung bei und sie dachte daran, wie es als richtig deklariert wurde, wenn Menschen ertranken. Natürlich war dabei der Ort entscheidend, genauso wie die Tatsache, ob sich diese Menschen gerade auf der Flucht befanden. Doch in Lias Augen sollten diese beiden Dinge darauf keinen Einfluss haben. Wenn sie einen Menschen aus einem Badesee rette war sie eine Heldin, wenn sie Flüchtende auf dem Meer rettete eine Straftäterin. Ihre Finger fuhren die Kette entlang, mit der alles begonnen hatte, ein Abbild ihrer Gedanken, die sich zwar immer im Kreis drehten, doch keine Lösung fanden und sich dennoch weiter bewegten. Warum entschieden alte Männer wer lebte und wer starb? Warum durften sie entscheiden, wer in den Tod ging und wer am Leben blieb? Lia verstand es nicht, würde es vermutlich auch nie. Wollte es noch weniger. Ihre Wut und Verzweiflung richtete sich plötzlich nach außen, der Sturm zerstörte den Staudamm in ihrem Inneren und sie riss die Kette entzwei. In dieser Welt hatte Lia für sich entschieden, dass ihr die Regeln egal waren. Denn wenn etwas schrecklich Falsches etwas Richtiges war, wieso sollte sie dann noch diesen Regeln leben? Sie blickte hinunter auf ihre Beine, die Kette lag auf ihrem Schoß. Zerstört. Jetzt würde sie die Kette definitiv nicht mehr zurückgeben. Auch wenn das selbst nach ihren eigenen Vorstellungen wohl das Richtige gewesen wäre. Mit einer kurzen Handbewegung warf sie sie ins Meer. Sollte der Bürgermeister doch bei Apfelkuchen und Schokokaffee darüber grübeln, wo sie jetzt wohl war und ob er sie je wiedersehen würde. Obwohl er bestimmt richtigen Kaffee trank und den Apfelkuchen durch Kekse ersetzte.

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