3. Allein

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Es ist Montag Mittag und ich schlendere, einen Kaffee in der Hand, über den Campus zu meiner ersten Vorlesung des Tages und im neuen Semester. Die Erstis rennen völlig verwirrt von einer Einführungsveranstaltung zur nächsten und sehen dabei aus wie orientierungslose kleine Entlein. Ihr Anblick lässt mich beinahe nostalgisch werden. Ich habe damals extra alle Wege schon eine Woche vor Studienbeginn ausgekundschaftet, damit ich mich in meiner Anfangszeit nicht verlaufe. Das hat tatsächlich funktioniert und ich war damals ziemlich stolz auf meine Organisation und meine Voraussicht. Im Nachhinein ist es ein bisschen lächerlich, aber was soll's.
Ich würde gern mit jemandem zusammen hier rumlaufen und über die Erstis lachen oder mich über andere Dinge austauschen, aber ich bin allein. Carter und ich haben uns seit dem Streit nicht mehr gesprochen und ansonsten habe ich tatsächlich keine Freunde. Klar habe ich hier Leute kennengelernt, aber ich war noch nie sonderlich extrovertiert und ich habe auch immer geglaubt niemanden zu brauchen. Naja nicht niemanden, aber eben nicht so viele. Und das habe ich jetzt davon. Ich habe mir in den letzten Tagen zuerst vorwürfe wegen Carter gemacht, aber dann habe ich mir gesagt, dass es keinen Sinn hat. Er ist alt genug um zu wissen ob er mit mir reden will oder nicht und so lange er es nicht will muss ich auch nicht auf ihn zugehen. Ja es wäre schön jetzt mit ihm zu quatschen, aber ich habe gelernt, dass es besser ist anderen Menschen nicht nachzulaufen, wenn sie selbst entscheiden zu gehen. Das hat mich immer nur in Schwierigkeiten gebracht und zu unnötigen Enttäuschungen und Tränen geführt.
Als ich in das Gebäude trete in dem meine Vorlesung stattfinden wird ertönen aus allen Ecken Gespräche und Gelächter. Die groß geschnittenen Flure und die offene Bauweise helfen nicht gerade den Geräuschpegel der aufgeregten Studenten zu dämmen. Ich schiebe mich an Studenten vorbei eine Treppe hinauf und um eine Ecke bis ich den richtigen Hörsaal erreiche. Der Kurs ist nicht übermäßig groß, aber auch nicht so klein, dass es unangenehm wäre. Ich setzte mich relativ in die Mitte, weil ganz hinten immer nur die Leute sitzen, die sowieso nichts mitbekommen wollen und ganz vorn befinden sich die übermotivierten Streber. Wer in der Mitte sitzt fällt nicht unangenehm auf, wird aber trotzdem bemerkt. Es ist also der perfekte Platz.
Als ich nach Payton gekommen bin wusste ich überhaupt nicht was ich machen wollte und habe eine dieser Veranstaltungen besucht, bei denen man rausfinden soll, welcher Studiengang zu einem passt. Internationale Sprachen und Kommunikation wäre zwar nie in meine engere Auswahl gekommen, aber letztlich habe ich mich nach der Veranstaltung dann doch dafür entschieden. Die Jobaussichten sind gut und vielfältig, außerdem ist es keiner der Studiengänge die total überrannt sind. Schon im ersten Semester habe ich so richtig gefallen daran gefunden und ich habe auch nie an meiner Entscheidung gezweifelt. Generell ist der Unterricht eher Theorieorientiert obwohl ich dachte es gehe bei Kommunikation mehr um Praxis, aber das stört mich nicht.
Langsam füllen sich die letzten Plätze und die Professorin betritt den Saal. Da es der erste Tag ist versucht der Großteil sich zu benehmen und still zu sein, aber wie jedes Jahr wird das nicht lange anhalten. Die Professorin stellt sich uns als Mrs Frighton vor und beginnt direkt mit ihren Erklärungen zu ihren Ansprüchen und Erwartungen in ihrem Kurs. Sie verteilt eine Liste für die Mailadressen und beginnt dann mit dem Stoff. Anscheinend will sie keine Zeit verlieren. Gefällt mir.
Zwei Stunden später bin ich total geplättet von dem ganzen Input. Die Frau ist echt Hammer. Sie erklärt gut, aber flott und weiß genau was sie will. Ich habe das Gefühl, dass sie genau geplant hat wann sie was mit uns durchgehen will und das ihre Planung bis Ende des Semesters reicht. Wenn ich sie fragen würde, was wir in einem Monat in der Vorlesung machen würden, könnte sie mir garantiert die ganze Unterrichtseinheit runterbeten. Trotzdem wirkt sie nicht, als würde sie ihre Vorlesungen wie eine Art festgefahrene Routine durchlaufen und seit Jahren immer wieder das gleiche erzählen.
In meiner Pause besorge ich mir einen Bagel und einen zweiten Kaffee und schaffe es tatsächlich eine freie Bank zu finden, auf die ich mich setzen kann. Schon wieder kann ich nicht anders, als all die Menschen um mich zu beobachten. Das ist irgendwie ein Automatismus den ich nicht abstellen kann. Ich wäre vermutlich ein super Stalker, aber letztlich hätte ich dann doch zu wenig Interesse daran immer nur einer Person zu folgen und sie zu beobachten. Zusätzlich wird es nur besser, wenn man immer wieder andere Leute sieht und nicht zu tief in ihr Leben eintaucht. Die Oberflächlichkeit dabei macht es entspannter, weil man nicht immer versucht noch mehr über jemanden herauszufinden.
Meine Augen bleiben an einem jungen Mann hängen, dessen Frisur mir nur zu bekannt vorkommt. Archer. Er läuft quer über eine der Wiesen und hat einen Rucksack über einer Schulter hängen. Ganz lässig winkt er einem Kommilitonen zu und hält kurz an um mit ihm zu plaudern.
Mein Blick wandert weiter und bleibt an einer Studentin hängen, die mit ihrem Freund an einer Wand lehnt und mächtig flirtet. Seinem Gesichtsausdruck nach zu urteilen würde er sie am liebsten auf der Stelle ausziehen, na dann viel Spaß ihr zwei.
Mein Kaffee ist leer und ich erhebe mich um den Pappbecher zu entsorgen. Normalerweise habe ich einen Thermobecher dabei, den ich mir befüllen lasse, aber der steht zu Hause im Schrank. Morgen werde ich definitiv dran denken. Der letzte Happen von meinem Bagel landet in meinem Mund und ich muss tatsächlich leise stöhnen, weil die Dinger super lecker sind. Sie sind nur leider auch echt teuer, weshalb ich mir nicht jeden Tag erlaube einen zu kaufen.
„Na da scheint ja jemand voll auf seine Kosten zu kommen." Ich drehe mich um und erblicke Archer vor mir, der schon wieder so unverschämt gut aussieht mit seinem Grinsen und dem Dreitagebart. „Hey, ja die Bagel sind echt der Wahnsinn. Ich könnte darin baden." Es ist mir überhaupt nicht peinlich mit ihm zu reden, weil er das auch überhaupt nicht ausstrahlt. „Okay, dass werde ich mir merken. Vielleicht sollte ich meinem Mitbewohner Zac mal so einen besorgen, damit er endlich aufhört mich mit seinen Beziehungsproblemen zu zulabern." „Ja vielleicht solltest du das." Ich lächle ihn an und bin mir nicht sicher ob ich einfach gehen oder das Gespräch fortsetzen soll. Ich hab noch ein bisschen Zeit bis zur nächsten Vorlesung und nichts zu tun, also entscheide ich mich für letzteres. Archer ist echt ein netter Kerl wie es scheint und ich habe nichts gegen seine Gegenwart einzuwenden. „Du studierst also auch hier?", beginne ich den Small Talk ganz unverfänglich und sehe ihn interessier an. „Ja, aber im Prinzip erst seit einem halben Jahr. Ich hab die Uni gewechselt." „Aha, was bringt einen denn dazu?" Wir beginnen in eine unbestimmte Richtung zu laufen, während wir uns unterhalten. „Einer meiner früheren Schulfreunde, Zac ist damals zum studieren nach Payton gegangen und er hatte einen schweren Start. Ich bin mit meinen Professoren und Kommilitonen nicht sonderlich gut klar gekommen und wollte dann den Studiengang wechseln. Zac hat mich überredet herzukommen und anstatt mich für etwas neues einzuschreiben habe ich beschlossen Wirtschaftsrecht noch eine Chance zu geben. War eine der besten Entscheidungen die ich im Bezug auf mein Studium getroffen habe." Ich bin erstaunt von seiner Offenheit und gleichzeitig bewundere ich ihn, weil er einfach die Uni wechselt um nicht nur besser mit dem Studium klar zu kommen, sonder auch um einem Freund zu helfen. „Klingt als wäre Zac ein cooler Typ, wenn er dir dabei hilft dein Studium zu retten." „Ja ist er. Wir kennen uns wirklich schon ewig. Für ihn würde ich um die halbe Welt fliegen, wenn er mich danach fragt." Und da ist es. Wie ein kleiner Pfeil bohrt sich das Gefühl in meine Brust. Ich habe niemanden für den ich so etwas tun würde und auch niemanden der so etwas für mich tun würde. Eine ganze Weile dachte ich, dass es eine Menge Leute gäbe, die immer für mich da wären und die mich unterstützen würden, aber irgendwann wurde es immer offensichtlicher. Ich hatte niemanden und die Menschen um mich herum haben nicht mal bemerkt wie ich Tag für Tag in ihrer Gegenwart weniger Luft bekommen hab. Archer bemerkt mein kurzes abdriften gar nicht und erzählt locker weiter. „Zac und ich wohnen zusammen und solange er und seine Freundin keinen Stress haben ist das auch voll okay, aber im Moment hängt mal wieder der Haussegen schief. Dann redet und redet er und irgendwann kann ich mir das einfach nicht mehr anhören. Zum Glück kann ich mein Training gelegentlich als ausrede benutzen." „Ja das kenne ich, Carter und seine Freundin sind das reinste Trauerspiel. Er sieht einfach nicht ein, dass sie über ihn hinweg ist und er dackelt ihr immer noch hinterher. Ich gehe manchmal einfach nicht ans Telefon, wenn er mich wieder voll jammern will. Ist nicht gerade nett, aber wahnsinnig effektiv." „Das ist einfach nur total gemein. Wenn er Unterstützung braucht solltest du für ihn da sein." Ich lache über seine Empörung. „Du hast gerade gesagt, dass du Sport als Ausrede benutzt um dir das Gerede deines Mitbewohners nicht immer anhören zu müssen. Ich würde nicht sagen, dass das besser ist." „Natürlich. Sport ist total wichtig für die Gesundheit. Ist dir klar wie viele Menschen jährlich draufgehen, weil sie ihr Leben lang einfach nur faul gewesen sind." Jetzt müssen wir beide lachen. „In Anbetracht der Tatsache, dass dein Körper echt gut in Form ist muss Zac ja echt große Probleme haben." Ich merke nicht mal, dass ich Archer damit ein Kompliment gemacht habe, aber ihm ist das sehr wohl aufgefallen. „Tja das stimmt wohl, aber ich mache auch so ganz gern Sport. Wenn Zac nicht so viel mit seinem Beziehungskram zu tun hätte würde er wahrscheinlich auch öfter mitkommen." Wir laufen über die Wege zwischen dem Parkgelände und quatschen weiter über unsere Freunde, die Probleme haben und über uns die natürlich unfassbar schlimm darunter leiden. Wobei Archer wesentlich mehr redet als ich, einfach weil ich nicht so viel zu erzählen hab. Er ist lustig und das gefällt mir. Wir können uns ganz ungezwungen unterhalten und hin und wieder auch ein bisschen gegeneinander sticheln. Mit ihm ist die Stimmung die ganze Zeit locker und erfrischend. Nach meinem letzten Gespräch mit Carter kommt mir das wirklich gelegen.
Irgendwann schaue ich auf die Uhr und stelle fest, dass ich in zehn Minuten bei meiner nächsten Vorlesung sein muss. Archer hat meinen Blick aufs Handgelenk bemerkt und ihm scheint ebenfalls einzufallen, dass er noch irgendwo hin muss. „Ich hab jetzt eine Vorlesung zu der ich gehen sollte. Man sieht sich bestimmt noch. Tschau Archer." Ich winke kurz und mache mich dann auf den Weg zum Nächstliegenden Gebäude. Archer winkt ebenfalls kurz zur Verabschiedung und läuft in die entgegengesetzte Richtung davon.
Ich muss für den Rest des Tages immer wieder lächeln und frage mich was das soll und wo es herkommt. Es hört während meiner Vorlesung nicht auf und auch nicht als ich auf dem Heimweg bin. Beim kochen und essen beobachte ich wie gewohnt die Menschen vor meinem Fenster und grinse zwischendurch immer wieder. Nicht mal als ich meine heutigen Notizen durchgehe und zum Teil neustrukturiert aufschreibe bekomme ich das lächeln aus dem Gesicht. Da heute in den Vorlesungen noch nicht wirklich viel passiert ist bin ich mit meinem Unikram schnell durch und beschließe die Bücher, die wir für Mrs Frightons Kurs lesen sollen erst morgen zu beginnen, weil ich morgen frei hab.
Ich gehe in die Küche und suche in meinem überschaubaren Kochbuchregal nach Rezepten für die nächste Woche. So kann ich direkt eine Einkaufsliste schreiben und morgen einkaufen gehen. Ich habe irgendwann mal gelesen, dass Dienstags die wenigsten Menschen einkaufen gehen und darum gehe ich dann häufig, weil es viel entspannter ist, als wenn die Supermärkte alle gerammelt voll sind. Ich liebe einkaufen, das langsame schlendern durch die Gänge mit Tee und Gewürzen oder die riesige Auswahl an Snacks. Außerdem verbringe ich immer eine Ewigkeit bei Obst und Gemüse, weil ich am aller liebsten frisch koche. Aber auch im Gang mit den Reissorten und Linsenarten könnte ich Stunden verbringen. Für mich hat einkaufen immer etwas meditatives. Ich schalte ab und gleichzeitig nehme ich immer so vieles wahr. Ohne Einkaufszettel loszuziehen würde mir aber im Traum nicht einfallen. Ich kann es nämlich gar nicht ab, wenn ich vergesse was ich kaufen wollte oder wenn ich Dinge kaufe, die ich eigentlich gar nicht kaufen wollte oder brauche. Ja ein kleiner Vorrat ist ratsam, aber fünf Packungen Nudeln sind einfach unnötig.
Den übrigen Tag hocke ich in meiner Wohnung und langweile mich, weil ich wirklich nichts zu tun hab. Normalerweise würde ich mich jetzt mit Carter treffen, aber das ist im Moment einfach nicht drin. Wie gesagt, ich werde ihm sicher nicht hinterherlaufen. Ich beschließe schon früh ins Bett zu gehen und so liege ich abends um halb neun in meinem Bett, eingekuschelt in meine Decke eng an die unzähligen Kissen in meinem Rücken gedrückt und bin dabei einzudösen, in der Hoffnung dass meine Nachbarn nicht vorhaben wieder lautstark in ihrer Wohnung herumzutrampeln. Denn das würde bedeuten, dass ich mich in die Küche begeben müsste und die Leute auf der Straße beobachten würde, bis wieder Ruhe ist. Und immer wenn das passiert schlafe ich ausgesprochen schlecht, weil ich mit einem unguten Gefühl ins Bett gehe, dass sich einfach nicht abstellen lässt. Ich weiß ja woher dieses Gefühl kommt, aber das macht die Sache eigentlich nur noch schlimmer.

finding love - im freien FallWo Geschichten leben. Entdecke jetzt