Kapitel 6

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Für einen Moment verharre ich in meiner Position und starre die Ausfahrt an, durch die Kyle gerade weggefahren ist. Das komplette Gelände der Westfield Boarding School ist mit einer hohen Steinmauer umgeben. Sie wird nur durch die Einfahrt geteilt, die mit einem hohen Tor geschlossen werden kann. Das Tor besteht aus Metallstangen, um die sich Rosen schlingen. Es gibt ein großes Tor für Autos und daneben ein Kleines für Fußgänger. Beide werden immer um zehn Uhr abends vom Hausmeister abgeschlossen. Für die Fußgängertür gibt es eine Schlüsselkarte, die jeder Schüler ab der 10.Klasse bekommt, um nach dieser Zeit wieder reinzukommen. Wenn man auf den Campus fährt, steht man auf dem Parkplatz, der aus gelbem Kies besteht, genau wie bei meinem damaligen Zuhause. Meine Augen verschwimmen plötzlich und ich sehe die Auffahrt meines alten Hauses. Die Erinnerungen kommen wieder hoch und ich fühle mich, als ob ich keine Luft mehr bekommen würde unter ihrer Last. Ich sehe vor meinem inneren Auge, wie meine Mutter weinend das Haus verlässt. Mein elfjähriges-Ich versteckt sich hinter dem Vorhang des Fensters in meinem damaligen Zimmer. Als Mum ihre Tasche auf den Rücksitz schmeißt und zitternd in ihr Auto steigt, sehe ich mich aus meinem Zimmer rennen. Ich eile die Treppen herunter und aus der Tür. Doch es ist zu spät. Sie fährt gerade die Ausfahrt runter. Ich will ihr nachrennen, doch mein Vater stoppt mich, indem er mich festhält. Ich versuche mich loszureißen, doch ich bin zu schwach. Weinend schreie ich nach meiner Mutter, in der Hoffnung, dass sie mich hört und zurückkommt. Doch es passiert nichts. Mein Vater versucht den erbärmlichen Versuch mich zu trösten, indem er seine Arme um mich schlingt. Doch diesmal bin ich stark genug, um mich von ihm loszureißen. „Ich hasse dich!", zische ich ihm zu, bevor ich in mein Zimmer renne und mich in meine Decke einwickle. Ein lauter Ruf lässt mich aus meinen Gedanken aufschrecken. Ich drehe mich um und sehe, wie Reed auf mich zu läuft. Ich bemerke, dass ich schon wieder Tränen in den Augen habe, weswegen ich mich wegdrehe und in die andere Richtung davonlaufe. „Eliana!" höre ich ihn hinter mir rufen. Ich wische mir schnell die Tränen aus den Augen und drehe mich genervt zu ihm. „Was willst du von mir?" Er hebt unschuldig seine Arme. „Hey, schau mich nicht so an. Ich hab nichts getan." Ich verdrehe die Augen. „Klar. Deswegen ist dein Bruder auch gerade wutentbrannt vom Parkplatz gerauscht.", sage ich sarkastisch. „Warum denkt eigentlich immer jeder, dass ich der Böse bin?", fragt er mit gespielt unschuldiger Miene. Lachend verdrehe ich wieder meine Augen und drehe mich um, um weiterzugehen. Reed ist mit zwei großen Schritten direkt neben mir und dreht mich an meinem Arm zu sich. Es geht alles viel zu schnell, als er sich plötzlich runter lehnt und seine Lippen auf Meine presst. Nach wenigen Sekunden sammle ich mich wieder und drücke ihn von mir weg. Ich schaue ihn fassungslos an, während er mich mit seinen blau-grünen Augen ausdruckslos anstarrt. Obwohl ich innerlich schäume vor Wut und ihn am liebsten anschreien würde, antworte ich ihm mit brechender Stimme: „Darum." Und bevor er irgendwas erwidern kann, laufe ich zu meinem Wohnheim. Ich bin froh, dass er mir nicht nach ruft oder läuft, da meine Nerven nicht noch mehr aushalten würden. Doch ein kleiner Teil in mir wünscht es sich, weil in mir die große Frage brennt, warum er mich geküsst hat.

Im Wohnheim angekommen, stelle ich mich unter die heiße Dusche um meinen verspannten Körper zu lösen, was nicht wirklich funktioniert, da meine Gedanken ein einziges Chaos sind. Auf der einen Seite bin ich einfach nur genervt von Reed und seinen ganzen Spielen. Auf der anderen bin ich total verwirrt. Er ist so unberechenbar. Am einen Tag ist er Averys Spielzeug und ignoriert mich komplett und am nächsten küsst er mich. Meine Gedanken verfolgen mich, bis ich nach stundenlangem Wachliegen einschlafe.

Am nächsten Morgen klingelt mein Wecker um sieben Uhr. Ich wecke die anderen Mädels und ziehe mich an, wobei ich das Gefühl habe, dass meine Augen jeden Moment wieder zufallen würden. Anschließend gehen wir alle zu viert frühstücken. Die anderen hatten eine deutlich bessere Nacht als ich, denn sie unterhalten sich angeregt. Lin erzählt von der Serie, die sie gerade schaut, während Sky behauptet, dass ihr Bücher viel besser sind als irgendwelche Netflixserien. Und Ava macht sich über die beiden lustig, da die besten Liebesgeschichten anscheinend im echten Leben passieren, womit sie ihren Freund Dan meint. Ich versuche mich mit ihrer Unterhaltung abzulenken, um nicht an den anstehenden Englischunterricht zu denken, den ich mit Kyle und Reed zusammen habe. Ich weiß nicht, ob Kyle wieder da ist, aber ich würde mir Sorgen machen, wenn nicht, da er niemals Unterricht verpassen würde. Mir fällt ein, dass ich Kyle eine Nachricht schreiben könnte, weswegen ich mein Handy raushole. Nach längerem Überlegen entscheide ich mich dazu nur eine kurze Nachricht zu schreiben, da er gestern schon genervt aussah, als ich ihn gefragt hatte, wo er hinfährt. Hi, alles gut bei dir? Nachdem ich mein Handy weggesteckt habe, versuche ich mich wieder auf die Diskussion meiner Freundinnen zu konzentrieren. Doch Ava merkt wohl meine psychische Abwesenheit, da sie sich zu mir dreht, während Lin und Sky immer noch diskutieren. „Alles gut? Du wirkst ein bisschen..." „Müde?", beende ich ihren Satz. Sie lächelt mich verständnisvoll an. „Auch." „Ich habe einfach nur nicht so gut geschlafen letzte Nacht.", seufze ich. „Ist das alles? Oder gibt es einen Grund für mich, besorgt zu sein?" Sie neigt leicht ihren Kopf und schaut mich lächelnd an. Ich weiß, dass ich ihr alles erzählen kann, aber ich muss das Geschehen von gestern selbst erstmal verarbeiten, also nicke ich nur. Als es Zeit ist, machen wir uns alle zu unseren Kursräumen auf. Ich gehe einen kleinen Umweg zu meinem Klassenzimmer. Eigentlich hasse ich es zu spät zu kommen, egal ob zum Unterricht oder wenn ich mich mit Freunden treffe, aber heute will ich die Aufmerksamkeit gewisser Personen, zu denen, wie ich versuche mir einzureden nicht Reed gehört, vermeiden. Auch wenn dieser sowieso immer erst fünf Minuten nach Unterrichtsbeginn kommt. Genau beim Gong erreiche ich meinen Kursraum, in dem schon meine Mitschüler, alle außer Kyle, wie ich feststellen muss, sitzen. Überrascht sehe ich sogar Reed an seinem Platz, der genau vor meinem ist. Kurz überlege ich, mich woanders hinzusetzen, entscheide mich aber dagegen. Also setze ich mich hinter ihn, in der Hoffnung, dass er mich nicht anspricht. Normalerweise habe ich Kyle zu meiner Verteidigung, wenn Reed und sein bester Freund Josh komische Sprüche reißen, doch jetzt bin ich auf mich alleine gestellt. Ich hole meinen Block und Stifte raus und lege sie auf meinen Tisch. Unser Englischlehrer Mr. Brown hat schon längst mit dem Unterricht angefangen und ist gerade dabei uns über die wichtigsten Romane der englischen Literatur zu erzählen, als Reed sich leicht zu mir hinter lehnt. Ich halte kaum merklich meinen Atem an. „Du kommst nie zu spät.", raunt er mir zu. Erleichtert, dass er gestern nicht erwähnt, atme ich wieder aus. „Du bist nie vor dem Gong da.", flüstere ich zurück. Er schmunzelt, wobei seine Grübchen zum Vorschein kommen. Seine Wimpern sind perfekt geschwungen, wie sie sich ein Mädchen nur wünschen könnte und seine braunen, leicht gelockten Haare fallen ihm etwas auf die Stirn. Warum muss er so ein verdammt perfektes Seitenprofil haben? Als er sich mit dem Gesicht zu mir dreht, werde ich aus meiner Starre gerissen. „Es gibt eben immer ein erstes Mal." Ich ignoriere die Zweideutigkeit seiner Worte und verdrehe nur die Augen. Dann wende ich mich wieder dem Whiteboard zu und versuche den Erklärungen von Mr. Brown zu folgen. Doch Reed lässt nicht locker: „Bist du noch sauer auf mich?" „Ich würde einfach gern unserem Lehrer zuhören.", antworte ich genervt. Diesmal verdreht er die Augen, wobei er irgendwas Unverständliches nuschelt. „Wegen gestern..." Doch Reed kommt nicht weit, da Mr. Brown unsere Konversation bemerkt. „Reed! Eliana! Es scheint, als gibt es Wichtigeres im Augenblick als meinen Unterricht. Warum klärt ihr das nicht vor der Tür, damit eure Mitschüler, die tatsächlich an meinem Unterricht interessiert sind, nicht gestört werden?" Ich spüre wie sich mehrere Leute zu uns drehen und meine Wangen sich erhitzen. „I-Ich glaube das ist nicht nötig.", antworte ich stammelnd. Doch Reed hat andere Pläne. Er springt von seinem Stuhl auf und erwidert mit fester Stimme: „Das ist eine fantastische Idee." Für einen Moment überlege ich sitzen zu bleiben, aber ich will nicht noch mehr Aufsehen erregen, also stehe ich auch auf und folge ihm zur Tür. Bevor wir die sie hinter uns schließen, ruft Mr Brown uns noch zu, dass wir fünf Minuten haben, um unsere Angelegenheiten, wie er es nennt, zu klären. An unserer Schule werden häufig pädagogische Ansätze ausprobiert, wie beispielsweise, wenn Schüler reden, sie vor die Tür zu schicken. In dieser Zeit verpassen sie wichtige Unterrichtszeit, was sie davon abhalten soll, im Unterricht zu reden. Nachdem die Lehrer gemerkt haben, dass dies nicht funktioniert, da viele Schüler es ausgenutzt haben, ein paar Minuten Pause zu haben, wurde zusätzlich noch eingeführt, dass man nach drei Malen vor der Tür eine Extrahausaufgabe bekommt. „Ich wollte mich entschuldigen bei dir.", fängt Reed an, sobald wir auf dem Gang sind, „Wegen gestern. Ich war ein bisschen angetrunken und ziemlich durch den Wind." Mein Körper spannt sich leicht an, aber ich versuche so locker, wie möglich zu bleiben. „Versprich mir einfach, dass es nie wieder vorkommt." Er zögert kurz, hält mir aber schließlich lachend die Hand hin. „Versprochen." Ich schlage ein. „Gut." Für einen Augenblick treffen sich unsere Blicke. Aber ich reiße mich schnell zusammen und lasse seine Hand wieder los. „Dann haben wir jetzt ja alles geklärt.", sage ich und drehe mich zur Tür. Als wir den Raum betreten, werden wir mit neugierigen Blicken empfangen, die ich so gut es geht, versuche zu ignorieren. „Wir haben gerade die Paare für die bevorstehende Gruppenarbeit eingeteilt und da ihr euch so gut verstehen zu scheint, bildet ihr eine Gruppe.", informiert uns Mr Brown, als wir unsere Plätze wieder einnehmen. Ich verschlucke mich an meinem eigenen Speichel. Versuche es aber mit einem Husten zu verstecken. Mr Brown schaut mich daraufhin mit hochgezogenen Augenbrauen an, bevor er zu meinem Erleichtern fortfährt. „Jede Gruppe muss ein bedeutendes englisches Buch aus dem 19. oder 20. Jahrhundert vorstellen. Ihr habt „Jane Eyre" von Charlotte Brontë. Auf eurem Platz sollte ein Handout liegen, wo drauf steht, was alles zu beachten ist." Er macht eine kleine Pause,. „Die Bücher müsst ihr euch selbst besorgen. Soweit ich weiß, gibt es alle in unserer Bibliothek auf dem Campus. Ihr habt insgesamt 4 Wochen Zeit. Dann ist Abgabe." Er geht zurück zum Pult und legt die restlichen Blätter in seine Mappe. Schließlich dreht er sich wieder zu uns und fragt: „Noch irgendwelche Fragen?" Ein paar Mitschüler melden sich, aber ich bekomme ihre Fragen nicht mit, weil ich so in Gedanken versunken bin. Ich weiß jetzt schon, dass Kyle ausflippen wird, wenn er erfährt, dass Reed und ich zusammen arbeiten. Sobald es um Reed geht, ist Kyle total empfindlich. Ich wollte ihn schon öfter danach fragen, aber er wechselt immer sofort das Thema, sodass ich keine Chance habe irgendwas herauszufinden. Ich schaue zu Reed, der aus dem Fenster starrt und anscheinend auch nicht zuhört. Ich bleibe an der Narbe neben seinem linken Augenbraue hängen und merke, dass ich eigentlich so wenig über Kyle und Reed weiß. Kyle hatte zwar einmal erwähnt, dass ihre Mutter vor ein paar Jahren gestorben ist und das der Grund ist, warum er und sein Zwillingsbruder sich nicht mehr so gut verstehen und dauernd streiten, aber das kann nicht alles sein. Aus undenklichem Grund muss ich irgendwas damit zu tun haben. Oder auf jeden Fall teils. Doch ich kann mir keinesfalls vorstellen wie. In diesem Moment habe ich einen Gedankenblitz. Kyle ist vielleicht schwer zum Reden zu bringen, aber es gibt noch einen Zweiten im Konflikt. Reed. Und seine Lieblingsbeschäftigung ist es feiern zu gehen, sich volllaufen zu lassen und mit Mädchen rumzumachen. In diesem Zustand wäre er bestimmt bereit zu reden, wenn ich ihm nur bisschen Aufmerksamkeit schenke. Schließlich hat er mich schon einmal versucht zu küssen, auch wenn er behauptet, er wäre betrunken gewesen und konnte nichts dafür, was ich ihm nicht glaube. Es wäre also einfach an ihn dranzukommen. Was wenn ich vorgebe, Interesse für ihn zu zeigen? Wenn ich so tue, als ob ich etwas von ihm will? Ich beiße mir auf die Lippe, um nicht zu auffällig zu grinsen. Es ist der perfekte Plan. Nur Kyle darf davon nichts erfahren.

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⏰ Letzte Aktualisierung: Feb 05, 2021 ⏰

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