Kapitel 4

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Roxanne hatte sich in den Pausenraum zurückgezogen. Sie hatte schon verstanden, dass man in diesem Job nicht auf die Einhaltung der Pausenzeiten pochen sollte. Wenn richtig viel Betrieb war, fiel es unendlich schwer, sich rauszuziehen. Das Gute war, dass die Zeit schnell verging. Nachdem Grace ihren Gesang zum Abschluss gebracht hatte und sich mehrmals mit besten Wünschen für die Adventszeit vom Publikum verabschiedet hatte, waren tatsächlich auch eine Vielzahl der Gäste gegangen. Roxanne hatte kassiert und sich über ihr erstes Trinkgeld gefreut. Sie hatte befürchtet, verschwindend geringes Trinkgeld zu bekommen, aber die Leute waren durchaus spendabel. Ob das an der Adventszeit oder an ihrem freundlichen Service lag, konnte sie nicht abschätzen.

Sie rauchte nicht, also verpulverte sie ihr Trinkgeld schon mal nicht für diese Belanglosigkeiten. Der Nachteil war, dass in ihrer Pause weniger passierte.

Roxanne holte eine Wasserflasche aus ihrer Handtasche und ein Sandwich. Sie setzte sich und genoss die Entlastung ihrer Beine.

Da fiel ihr Blick wieder auf das kirschrote Kleid. Das, welches bis vor kurzem noch Graces Körper verziert hatte. Dieses Kleid verströmte eine seltsame Anziehungskraft. Roxanne stellte sich kurz vor, wie sie den weichen Stoff mit ihren Fingerspitzen entlanggleiten würde. Vielleicht hing danach ein Hauch von Graces Parfüm an ihren Fingern. Sie blinzelte und versuchte, diese Gedanken zu verjagen.

Plötzlich kam Grace herein. „Oh hi" Sie lächelte Roxanne freundlich an. Nun trug sie wieder ihre Alltagskleidung. Roxanne verstand, was es mit der Kombination von Highheels und Jeans auf sich hatte. Die Highheels waren der ideale Begleiter für das rote Kleid. Anerkennend schaute Roxanne Grace auf die Füße. Sie selbst könnte keine zwei Minuten in so etwas stehen – geschweige denn zwei Stunden darin immer wieder durch die Bar laufen und dazu auch noch singen.

„Na, wie geht's dir?", fragte Grace.

Roxanne war erstaunt, wie sie überhaupt noch so viel Energie haben konnte.

„Gut, danke. Ich habe heute meinen ersten offiziellen Tag. Da brauche ich einfach mal eine Pause."

Sofort ärgerte Roxanne sich. Jetzt erweckte sie wahrscheinlich den Eindruck der dicken Frau, die keine Belastung vertrug.

„Ja, das kann ich gut verstehen. Ich möchte nicht mit dir tauschen. Du hast echt einen Knochenjob. Ich hab auch mal aushilfsweise gekellnert und mir haben binnen kürzester Zeit die Arme wehgetan."

Roxanne lächelte geschmeichelt. „Tolles Kleid übrigens." Sie nickte zu dem langen, glänzenden Stoff, der den Raum zu dominieren schien.

„Danke. Ich trage das bei jedem Auftritt in der Adventszeit."

„Echt? Es steht dir hervorragend, aber du könntest auch immer mal wechseln. Du kannst bestimmt alles tragen." Roxanne erschrak sich über ihre eigenen Worte. Sie wollte doch Grace nicht zu nah kommen. Nun fand sie sich fast mit ihr flirtend wieder. Aber so richtig zählte das nicht. Das waren ganz schlichte Komplimente von Frau zu Frau, befand sie.

„Lieb, dass du das sagst, aber ich habe leider nur das eine Kleid, was im Advent auf eine Bühne passt."

„Ehrlich?"

„Was denkst du denn?" Grace lachte. „Ich bin doch auch nur eine Studentin. Und Auftritte im Frazier's sind kein Zeichen von einer ausgewachsenen Karriere. Es ist fast eher ein Freundschaftsdienst. Wenn ich überlege, wieviel Zeit dabei draufgeht und gerade auch wertvolle Abende im Advent, wenn es draußen kalt und unangenehm ist und man lieber mit jemandem unter der Decke gekuschelt liegen will und einen schönen Film sehen will. Und dann kommt jedes Jahr Carol an und bezirzt mich immer wieder mit ihrem Charme. Und na ja, dann findet man mich jeden Dezember wieder zwei Mal die Woche im Frazier's. Wahrscheinlich bin ich noch hier, wenn ich so alt bin wie Carol. Und dann warte ich immer noch auf den Durchbruch."

Roxanne war überrascht. Aus Graces Schimpftirade ließ sich so viel Enttäuschung heraushören. Das hätte Roxanne nicht erwartet, als sie die bezaubernde Grace selbstbewusst, elegant und glücklich in dem roten Kleid hat singen sehen.

„Aber es macht dir doch auch Spaß oder?"

Grace seufzte. „Ja, wenn es keinen Spaß machen würde, wäre ich nicht hier. Ach, entschuldige meine schlechte Laune. Ich bin erschöpft und sollte nach Hause gehen."

„Ich will dich nicht aufhalten", sagte Roxanne mit einem entschuldigenden Ton. „Ich muss ja eigentlich auch zurück und die letzten Nachteulen bedienen, bis sie genug haben." Sie stand auf, aber ging keinen Schritt weiter. Sie beobachtete, wie Grace den Kleiderbügel mit dem roten Kleid vom Haken nahm. „Aber eins muss ich dir noch sagen."

Grace wandte sich ihr um, den Kleiderbügel in der Hand und den Stoff über ihren Unterarm gelegt.

Roxannes Herz war erneut irgendwo unterhalb ihres Bauchnabels unterwegs. Graces vollständige Aufmerksamkeit, der Blick aus ihren braunen Augen. All das schien Wackelpudding aus Roxannes Beinen zu machen. „Ich...ich wollte nur sagen, dass ich deine Stimme wunderbar finde. Wenn es nach mir ginge, müsstest du bereits groß rausgekommen sein. Du singst einfach fantastisch!"

Grace lächelte ehrlich geschmeichelt. „Ich danke dir. Tja, das darfst du dann noch einige Male bis Weihnachten genießen."

Roxanne freute sich – mehr als Grace wohl annehmen würde, dachte sie.


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