Kapitel 2

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„So, Kindchen, komm mal her." Carol zog sie an der Schulter zu sich. „Stell das Tablett hin."

Mit zittrigen Händen legte Roxanne das Tablett an der Theke ab.

„Komm, setz sich." Carol ging mit ihr in einen Raum hinter der Bar. Es war ruhig und kühl dort und roch zwar abgestanden, aber irgendwie reiner, nach Papier statt nach dem Schweiß alter Herren.

Roxanne setzte sich auf einen der Stühle, den Carol ihr angeboten hatte. Neben ihr war ein Hängeregister. Sie spürte das ungebändigte Bedürfnis, ihren rechten Arm darauf abzulegen. Den, mit dem sie den ganzen Abend das Tablett gehalten hatte.

„Was sagst du denn selbst zu diesem Tag?"

Oh je, Roxanne hasste diese Situation jetzt schon. Es erinnerte sie zu sehr an die Schule. Wenn die Lehrer sie bei der Besprechung von Zwischenergebnissen beiseite genommen haben und ihr ebenjene Frage gestellt hatten. Sie hatten immer darauf abgezielt, dass Roxanne selbst bekannte, Probleme gehabt zu haben, zu wenig gelernt zu haben. Dann war es für sie nicht so schwierig, das Gespräch zu führen. Es war dann immer Roxanne, die selbst den ersten Stein geworfen hatte.

Fünf Jahre war sie schon nicht mehr in der Schule, aber sie fühlte sich genau so wie damals: klein, pummelig und inkompetent in jeglicher Hinsicht.

Sie faltete ihre Hände im Schoß und richtete den Blick darauf.

„Ich warte!", verlangte Carol streng und für halb vier in der Nacht außerordentlich munter. „Und sieh mich gefälligst an, wenn ich mit dir rede."

Ruckartig hob Roxanne den Blick. „Ich denke, ich habe ein Mal die Bestellung vergessen und einmal die Bestellung verwechselt." Mehr wollte sie nicht sagen. Dass sie vermutlich langsam war, fiel ihr noch ein. Wahrscheinlich war sie nicht genügend auf die Gäste zugegangen. Womöglich war ihr Lächeln zu zaghaft.

„Okay?" Carol schien noch mehr zu fordern.

Roxanne riss ihre verknoteten Hände auseinander und ließ sie auf ihren Schoß fallen. „Herrgott, dann sagen Sie doch einfach, wenn Sie mich feuern!"

Carol stutzte. Ein winziges Lächeln schummelte sich aus ihrem Mundwinkel heraus. „Möchtest du, dass ich das tue?"

Roxanne zuckte die Schultern.

„Hat dir der Job wenigstens ein bisschen Spaß gemacht?"

Jetzt stutzte Roxanne. Diese Frage hatte sie sich gar nicht gestellt.

„Die Frage musst du mir schon beantworten, wenn ich entscheiden soll, ob du den Job bekommst."

„Sie ziehen mich in Erwägung?" Roxanne war mehr als überrascht.

„Warum denn nicht? Klar, du hast dir ein paar kleine Patzer erlaubt, aber ich habe schon weiß Gott ganz andere Anfängerinnen gesehen. Nur weil ich alt bin, habe ich nicht vergessen, wie schwer ein erster Tag sein kann. Die Überforderung von einem neuen Arbeitsumfeld. Neue Kollegen, neue Belastungen. Ich wette mit dir, dein Arm zieht bis in die Schulter."

Roxanne lachte erleichtert auf. „Ja."

„Schone ihn unbedingt. Im Laufe der Zeit wird sich immer mehr Muskelmasse aufbauen und dir werden Getränkelieferungen quer durch den Raum nichts mehr ausmachen."

Roxanne lächelte bei der Vorstellung von sich selbst mit definierteren Armen.

„Und ich bin mir ziemlich sicher, dass insgesamt die Pfunde purzeln werden. Wenn du jeden Tag regelmäßig von Tisch zu Tisch läufst, sind deine Pölsterchen bald weg."

Roxanne gefror das Lächeln. So sehr sie Carol auch mochte, in ihren Äußerungen war sie knallhart und nahm keine Rücksicht auf Verluste.

„Aber meine Frage hast du mir immer noch nicht beantwortet. Hat es dir Spaß gemacht?"

Roxanne überlegte. Sie sah auf ihren Arm herunter, der ihr wahrscheinlich in den nächsten Tagen Muskelkater bescheren würde. Sie spürte den Schweiß an ihrem Rücken und unter den Armen. Es war hart, aber dennoch war sie am Ende ihrer ersten Schicht zufriedener als sie in den letzten Wochen jemals gewesen wäre. Sie dachte an die fröhliche Musik, die bunten Drinks und die gut gelaunten Menschen. „Ja. Das hat es."

„Gut, dann sehen wir uns ab nächster Woche regelmäßig. Wir bauen dich in den Schichtplan ein. Alle zwei Wochen bist du am Wochenende mit dran. Einmal in der Woche bist du für die Endreinigung mit verantwortlich."

Roxanne erinnerte sich daran, dass eine der anderen Kellnerinnen vorhin alle Stühle auf die Tische gestellt hatte und mit einem Wischmopp bewaffnet ihre Arbeit begonnen hatte, als Carol Roxanne mit ins Büro genommen hatte.

„Ich freue mich, dich im Team zu haben!", brachte Carol ihre Erklärungen zum Abschluss und reichte ihr die Hand.

Roxanne griff mit ihrem schwachen Handgelenk zu. Carols Händedruck war nicht der einer Frau in den Achtzigern. Er war der einer Frau, die schon alles gesehen und erlebt hatte. Und die zu ihrem Wort stand. Die Wärme ihrer rauen Hand löste etwas in Roxanne aus.

Carol sah sie aus verkniffenen Augen näher an. „Du heulst doch jetzt nicht etwa, weil ich dich einstelle?"

Roxanne lachte. „Nein", sagte sie, aber zog verstohlen die Nase hoch.

„Erzähl mir nur noch die Kurzfassung: Warum hast du keinen Job?"

Roxanne blinzelte und war gleich wieder angespannt. Carols Ton konnte von einer Sekunde auf die nächste die gegensätzlichsten Gefühle hervorrufen.

„Ich...", stammelte sie.

„Nein, ich sollte die Frage präzisieren. Warum hattest du so lange keinen?"

„Vielleicht weil ich aussehe wie ich aussehe? Weil ich das College abgebrochen habe? Weil ich nichts kann?"

„So, Kindchen, das reicht mir dann jetzt aber!" Sie stand hektisch auf und fuchtelte mit den Händen herum, als wollte sie ein lästiges Insekt verscheuchen. „Solch eine Einstellung gibst du das nächste Mal, wenn du zum Arbeiten herkommst, an der Garderobe ab!", sagte sie bestimmend. „Keine Frau der Welt darf sich von irgendwem einreden lassen, dass ihr Aussehen ihr Wege versperrt! Und erst recht nicht, dass sie nichts kann! Hat dir deine Mutter das nicht schon beigebracht?"

Roxanne stand zögerlich auf, da Carol sich anschickte, das Büro zu verlassen.

„Na ja, ich glaube, meine Mum war auch nicht so zufrieden mit meinem Aussehen und war enttäuscht, dass ich keine richtige Karriere gemacht habe."

„Papperlapapp! Die soll mir mal unterkommen!", drohte Carol. „Das grenzt ja an Kindeswohlgefährdung!" Sie legte ihre Hand auf Roxannes Rücken und schob sie mit flatternden Fingern aus dem Raum. „So und nun, hopp, hopp, ab nach Hause! Schlaf gut, Kleines!"

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