Kapitel 1

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Für mich war Sprache immer etwas unglaublich Wichtiges. Sie war das was das Leben ausmachte. Da meine Mutter Sängerin und mein Vater Dolmetscher war,teilten sie meine Meinung. Oder ich ihre?
Jedenfalls erwies sich diese Ansicht als falsch nachdem mein Leben sich von einer Sekunde auf die andere für immer veränderte.

Ich war siebzehn als es passierte. Ein Autounfall. Meine Eltern und meine Schwester starben.
Ich war die einzige Überlebende. Wobei man das so nicht ganz sagen kann,denn auch ein großer Teil von mir starb in diesem Moment.

Ich wachte im Krankenhaus auf und wusste nicht was passiert war. Ich konnte mich an nichts erinnern. Ich schloss die Augen und versuchte mich auf das zuletzt Geschehene zu konzentrieren,doch vor meinen Augen tauchte nur eine weiße Wand auf. Stattdessen sah ich mich also um. Ich lag in einem kleinen Zweibettzimmer,aber das Bett nebenan war leer. Es gab zwei Türen aus hellem Holz auf der mir gegenüberliegenden Seite des Zimmers. Die eine führte wahrscheinlich in ein Badezimmer und die andere müsste dann wohl die zum Flur sein.
Gerade als ich meinen Blick auf das Gemälde an der weißen Wand links von mir richten wollte,öffnete sich eine der Holztüren.
Ein großer Mann mit einem weißen Arztkittel betrat den Raum und kam mit einem unruhigem und unsicherem Gesichtsausdruck auf mich zu.
Ich wollte gerade den Mund aufmachen und fragen was passiert ist, als der Arzt mir zuvorkam:"Versuch bitte nicht zu sprechen. Ich bin Dr. Paulmann, ich werde dir sagen was passiert ist und warum du hier bist. Wenn du eine Frage hast schreib sie auf,aber sprich nicht." Er deutete auf einen weißen Notizblock mit einem Kugelschreiber,der auf dem Nachttisch neben mir lag.Ich schob meine aufkommende Verwirrung und mein Misstrauen beiseite, legte den Block auf meine Beine und nahm den Stift in die Hand bevor ich dem Arzt zu nickte, um ihm zu signalisieren dass ich bereit war. Dieser sah mich mit einem mitfühlenden Blick an und holte einmal tief Luft bevor er mit ruhiger Stimme anfing zu sprechen:"Kannst du dich denn an etwas erinnern?" Ich schüttelte den Kopf und er seufzte leise so als hätte er gehofft, dass ich die Frage bejahen würde. "Also,...du hattest einen Autounfall. Der Wagen ist mit einem Entgegenkommenden Zusammengeprallt. Deine Eltern...sie haben den Zusammenstoß nicht überlebt..." Er hörte auf zu sprechen als er mein Gesicht sah.
Tränen traten mir in die Augen und strömten über mein Gesicht. Was? Das kann unmöglich war sein! Wie könnte das wahr sein? Ich wollte schreien,aber ich war wie gelähmt. Die verschiedensten Erinnerung zogen blitzschnell an mir vorbei wie ein zu schnell ablaufender Film. Ich sah meine Eltern wie sie zusammen in der Küche standen und kochten, wie sie mit mir und meiner Schwester fangen spielten als wir noch klein waren und ich sah sie im Publikum bei einem meiner Auftritte. Alle möglichen Situationen und Bilder flogen an mir vorbei und mit jeder Sekunde wurde das Gefühl in meiner Brust schlimmer und schlimmer. Es war als hätte mir jemand ein Messer mitten ins Herz gerammt. Ich wollte dass es aufhört. Ich wollte,dass das alles nicht wahr ist, doch das war es.
Aber das Leben war noch lange nicht fertig mit mir und gerade als meine Welt in sich zusammenfiel, fing der Arzt erneut an zu sprechen: "Deine Schwester ist auf der Intensivstation,ihr Zustand ist kritisch. Und...also...bei dem Unfall...ein ziemlich großer Splitter der Windschutzscheibe wurde in deinen Hals geschleudert. Er ist sehr tief eingedrungen...du wirst nie wieder reden können." Der Mann mir gegenüber sah aus als würde er sich gleich übergeben wollen, doch das war nichts im Vergleich dazu wie ich mich fühlte. Er hatte es geschafft innerhalb weniger Minuten mein ganzes Leben zu zerstören. Ich fühlte und hörte und sah nichts mehr. In mir breitete sich eine Leere aus und es fühlte sich an als würde ich innerlich sterben. Ich nahm nichts mehr wahr und das Einzige woran ich denken konnte war, dass ich bei dem Unfall hätte sterben sollen. Ich war eine Sängerin. Was sollte ich ohne meine Stimme denn machen? Was sollte ich ohne meine Mutter machen, die mir immer geholfen und mich bei meiner Leidenschaft unterstützt hatte? Was war ich denn ohne den Teil von mir, der mich ausmachte? Nichts, gar nichts. Ich war nichts mehr und ich hatte nichts mehr. Noch nie hatte ich mich so gefühlt. Was war das Leben eigentlich für ein Witz? Das konnte doch alles nicht war sein. Warum musste das passieren? Warum musste das mir passieren?
Der Arzt war sichtlich überfordert mit der Situation und sah mich gequält und hilflos an. Doch ich wollte bloß noch allein sein, es gab nichts was er hätte sagen oder tun können um mir in diesem Moment zu helfen.
Ich setzte den Stift in meiner Hand auf das Papier doch meine Tränen erlaubten mir nicht klar zu sehen. Also schrieb ich einfach darauf los und hoffte am Ende,dass tatsächlich "Ich will jetzt allein sein" auf dem Blatt stand. Der Arzt nickte einmal als ich ihm den Block hinhob und drückte kurz meine Hand bevor er das Zimmer verließ.

Die nächsten Tage vergingen ohne dass ich sie wahrnahm. Ich bekam kaum mit, das zweimal die Wunde an meinem Hals versorgt wurde. Ich steckte zu sehr in dem Gefühl der Leere und der Trauer fest, in das ich mich zurückgezogen hatte.
Die erste Zeit durfte ich wegen der Verletzung nicht essen, aber auch als ich es danach rührte ich das Essen nicht an. Mir war alles egal geworden und ich hörte in meinem Inneren auf zu existieren.

Es verging knapp eine Woche bevor ich entlassen wurde. Ich hatte keine Verwandtschaft zu der ich hätte gehen können, weshalb ich in ein Heim für Jugendliche kam.
Ich durfte nicht nach Hause um meine Sachen zu holen,weil die Ärzte und die Heimleiterin davon überzeugt waren,dass das zu viel für mich wäre. Stattdessen musste ich eine Liste schreiben und mir wurden dann die Sachen gebracht. Auch das war mir egal. Die Einzige Frage die ich mir stelle war was mit mir und meiner Schwester geschehen würde. Auf Dauer meine ich, wir hatten niemanden außer einander.
Ich durfte sie jeden Tag im Krankenhaus besuchen. Ihr Zustand besserte sich jedoch nicht.
Zu Beginn der dritten Woche im Heim bekam ich die Nachricht vom Tode meiner Schwester. So wurde mir also auch die letzte Person genommen, die ich noch hatte.

Ich verbrachte ungefähr drei Monate in dem Heim. Ich hatte mich so sehr in mich selbst zurückgezogen,dass ich nur wenig um mich herum wahrnahm. Ich sprach kaum, aß nur wenig und ignorierte meine Außenwelt weitestgehend.
Irgendwann jedoch kam die Heimleiterin Frau Malinski zu mir ins Zimmer und offenbarte mir einen möglichen Ausweg:"Ich habe tolle Nachrichten, Carla. Es gibt eine Familie,die dich gerne kennenlernen würde.Die Marianos. Sie haben einen Sohn in deinem Alter und sie wohnen in einem schönem Haus mit einem großen Garten. Du magst doch Gärten, oder nicht",fragte sie hoffnungsvoll und mit einem vorsichtigen Lächeln im Gesicht. Ich nickte leicht woraufhin Frau Malinski zufrieden lächelte und nach einem kurzem Schweigen das Zimmer leise verließ. Vielleicht würde ein neues Leben für mich beginnen. Vielleicht musste ich versuchen die Vergangenheit hinter mir zu lassen.

Wenige Tage später lernte ich die Marianos dann kennen. Wir saßen alle zusammen in dem kleinen und gemütlichen Büro von Frau Malinski und schwiegen uns erstmal an. Es war ein wenig komisch und die Tatsache,dass ich nicht reden konnte, verbesserte die Situation nicht gerade. Ich musterte meine-vielleicht- zukünftige Familie, die das selbe mit mir tat. Der Vater war ein schlanker groß gewachsener Mann mit dunklen Haaren und braunen,freundlichen Augen. Die Mutter hingegen war eher klein mit langen,blonden Locken und tief blauen Augen. Ihr Sohn hatte die schwarzen Haare seines Vaters und die intensiv blauen Augen seiner Mutter,jedoch wirkte er leicht verzweifelt und fehl am Platz und fühlte sich sichtlich unwohl mit der Situation. Offensichtlich war er nicht derjenige, der mich adoptieren wollte. Das dämpfte meinen davor recht positiven Eindruck.
Schließlich brach die Heimleiterin das unangenehme Schweigen in dem sie sagte:"Also Carla, das ist die Familie von der ich dir erzählt habe. Herr und Frau Mariano, das ist Carla. Wie ich ihnen schon mitteilte hat sie in letzter Zeit einiges durchmachen müssen. Carla, die Marianos kennen deine...Geschichte und sie möchte dir helfen." Bitte? Wie konnte diese Frau es wagen wildfremden Menschen meine Probleme einfach so anzuvertrauen? Ich war nicht bereit dafür,dass jemand das alles wusste und vielleicht von mir verlangen könnte es aufzuarbeiten oder so was.
Die Marianos sahen mich mitleidig und ein bisschen erwartungsvoll an und ich wollte nur noch weg hier. Das ist ja ein toller Anfang. Ich war mit dieser Situation völlig über fordert und wusste nicht was sie von mir erwarteten.Wollten sie mich etwa nur aus Mitleid adoptieren? Wahrscheinlich...
Schließlich entschied ich neutral zu gucken und mir nichts anmerken zu lassen, aber ich presste meine Kiefer zusammen und ballte meine Hände zu Fäusten um mich so zu zwingen auf meinem Stuhl sitzen zu bleiben.
"Also Carla, du kannst mich gerne Karin nennen und mein Mann heißt Sandro. Und das ist Fabio", erklärte die Mutter und deutete dabei erst auf ihren Mann und später auf ihren Sohn. Dieser grinste leicht als er meine Angespanntheit bemerkte. Ja, er mochte mich schon mal nicht. Oh Gott, ich darf dass hier nicht versauen! Wer weiß ob die nächste Familie auch so nett und aufgeschlossen ist wie die hier. Oder vielleicht würde auch gar keine weitere mich adoptieren wollen, weil ich so angeknakst bin? Ich atmete einmal tief durch, entspannte mich ein wenig und lächelte die Marianos freundlich an. Anschließend ging ich noch ein wenig weiter,indem ich auf einen Block neben mir schrieb "Schön sie kennenzulernen" und ihn ihnen dann entgegenhielt. Als sie meine Worte lasen,lächelten Karin und Sandro glücklich und Fabio verdrehte die Augen.
Das Treffen ging noch eine Stunde,in der mir Sandro und Karin ihr Haus und mein mögliches Leben dort schmackhaft machen wollten und Fabio unbeeindruckt daneben saß und schwieg. Ihn versuchte ich deshalb größtenteils zu ignorieren. Am Ende lief es gar nicht schlecht und irgendwie waren mir diese Leute wirklich sympathisch, nur Fabio machte mir Sorgen. Er schien mich ernsthaft nicht zu mögen.
Nichtsdestotrotz bekam ich drei Tage nach dem Treffen die Nachricht, dass die Marianos mich tatsächlich adoptierten und ich schon in wenigen Tagen zu ihnen ziehen würde.

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