𝖲𝗍𝗋𝗂𝗇𝗀𝗌

27 6 6
                                    

»When I'm with you I feel better, I want all the strings, all the strings attached«
[𝖧𝖺𝗇𝖽𝗐𝗋𝗂𝗍𝗍𝖾𝗇 | 𝖳𝗋𝖺𝖼𝗄 𝖽𝗋𝖾𝗂]

Nachdem ich meine Garderobe verlassen hatte, lief ich wieder an die Seite der Bühne. Ich hatte jetzt noch ungefähr zwei Stunden Zeit, bis ich das Meet and Greet hatte. Auch in den anderen Städten hatte ich mir oft noch Jades Konzert angesehen. Sie war eine unglaublich talentierte Künstlerin und ich hatte riesigen Respekt vor ihr. Sie hatte die Show gerade erst eröffnet, da die Bühne nach meinem Auftritt noch minimal umgebaut werden musste.

Mein Blick harrte konzentriert auf der Bühne, während Jade ihren Song "Love Limit" sang. Es war eines meiner Lieblingslieder von ihr und es handelte davon, ohne Grenzen und Bedingungen zu lieben. In ihrer Stimme lagen so viele Emotionen, die jeden einzelnen dazu brachten, diese sofort nachzuempfinden.

Neben mir bewegte sich etwas, aber ich schenkte der Person, die sich neben mich setzte, keine Beachtung, da ich ziemlich gefesselt war. »Gefällt dir der Song?« Überrascht schaute ich auf und sah in die gold-braunen Augen, die mich seit Wochen in meinen Träumen verfolgten. Sicherlich schaute ich sie wieder einen Moment zu lang an. Ich riss mich zusammen, bevor ich antwortete: »Sehr sogar, wenn ich ehrlich bin« Ein verstohlenes Lächeln bildete sich in ihrem Gesicht. »Hat mich auch echt viel Zeit und Arbeit gekostet.« Sie lachte, aber es war nicht das ehrliche Lachen, das ich in Erinnerung hatte. Es war erzwungen und auch irgendwie traurig.

»Du hast den Song geschrieben?«, fragte ich etwas verblüfft. »So wie viele andere von ihren Songs basiert er auf einem meiner Gedichte.« Sie brachte es trocken hervor, aber in ihren Augen war der Schmerz zu erkennen, mir war bloß nicht bewusst, was für ein Schmerz. »Seit wann schreibst du Gedichte?«
»Seit fast vier Jahren« Damit überraschte sie mich erneut, da sie sicherlich in meinem Alter war und deshalb auch nur 15 oder 16 sein konnte.

»Hast du auch die Melodien geschrieben?«, fragte ich weiter. Dieses Gespräch hatte etwas ungewöhnliches an sich. Sie schien so ehrlich und ich fragte mich, wieso, immerhin kannten wir uns nicht. »Nein, die hat Jade geschrieben« Die Bitterkeit, die in der Stimme des Mädchen mitschwang gefiel mir nicht. »Woher kennst du Jade denn?« Ihre Augen fokussierten meine und stachen in meine Seele, zumindest fühlte es sich so an. »Ich bin ihre Schwester Reagan.«

Ihr Name zerfloss in meinen Gedanken. Seit Wochen wollte ich ihren Namen erfahren und jetzt wusste ich ihn endlich. Es fühlte sich an wie eine große Erleichterung, die gleichzeitig aber auch dafür sorgte, dass ich mehr von ihr erfahren wollte. Warum schwang diese Bitterkeit in ihrer Stimme mit? War sie nicht damit einverstanden, dass Jade ihre Gedichte verwendete oder woran lag es? Und was machte sie überhaupt hier?

»Jade hat mich gebeten vorbeizukommen« Verdammt, hatte ich die letzte Frage etwa laut ausgesprochen? »Ich denke mal, sie möchte mehr Texte haben«, lachte Reagan ironischerweise auf, doch ich konnte sehen, wie sie sich auf die Lippe biss, vermutlich um nicht noch einen weiteren bösen Kommentar abzulassen. »Du willst nicht, dass sie deine Texte verwendet?«

Dieses Gespräch fühlte sich so komisch an. Diese persönlichen Informationen, die Reagan mir gerade gab, verwirrten mich, denn sie kannte mich nicht mit Ausnahme von unserem kleinen Zusammenstoß vor mehreren Wochen.

»Warum sollte ich wollen, dass sie aus meinen Gedanken und Gefühlen Geld macht und nicht mal öffentlich dazu steht? Sie hat sich gegen meinen Willen diese Texte genommen und es so aussehen lassen, als hätte sie die Lieder geschrieben.« Jetzt erst blickte sie mir wieder richtig in die Augen und dieses Gefühl davon, jetzt wie ein offenes Buch in ihren Händen zu liegen, machte sich in mir breit. »Meine Schwester hat sich meine Arbeit genommen und ich kann nichts dagegen tun.«
»Warum kannst du nichts dagegen tun?«, fragte ich verwirrt. Natürlich war Jade ihre Schwester, aber genau deswegen könnte Reagan ja mit ihr reden.

»Wir haben einen Deal.«, brachte sie trocken hervor. Es war beinahe unmöglich ihre Gesichtszüge zu lesen. Sie schien so voller Wut und Bitterkeit, aber auch Schmerz und Verrat und trotzdem bewahrte sie ihr Pokerface. Doch der Sturm, der in ihren Augen wütete und kurz davor war, auszubrechen, war unübersehbar. Doch vielleicht lag das auch einfach daran, dass sie mich ihren Schmerz gerade sehen lies. Es war wie ein Test: Wenn ich ihre Emotionen erkennen konnte, erzählte sie weiter, doch wenn ich zu oberflächlich dafür war, sperrte sie mich aus.

Dann brach sie den Blickkontakt ab. Der Test war vorbei, doch ich war mir nicht sicher, ob ich bestanden hatte oder nicht. Eine bedeutsame Stille legte sich über uns und sie machte so viel aus. Wir beide blickten auf die Bühne und jetzt sah ich Jade zum ersten Mal in einem anderen Licht. Reagans Worte tobten in meinem Kopf und es war ein bisschen so als hätte sie den Sturm aus ihren Augen in meinem Kopf verschoben. Warum tat Jade das? Warum stahl sie Songtexte? Ich konnte nicht einschätzen, warum, aber irgendwas an Reagans Ausstrahlung und ihren Worten lies mich ihr Glauben schenken. In diesem Mädchen ging so viel mehr vor als mir überhaupt bewusst war und vermutlich auch mehr als ich jemals herausfinden könnte. Reagan Hale war mir ein Rätsel, doch ich wollte es unbedingt lösen.

Während dem Rest des Konzerts sprachen wir kein Wort mehr miteinander. Als Jade kurz davor war, ihr Konzert zu beenden, schaute Reagan mich noch einmal an und sagte: »Tut mir leid, wenn ich jetzt dein Bild von meiner Schwester zerstört habe, aber ich hatte das Gefühl es dir sagen zu müssen.« Dann stand sie auf und verließ den Bereich, bevor Jade voller Adrenalin und Euphorie von der Bühne gerannt kam. 

Der Schweiß stand ihr auf der Stirn, doch auch das Glück. Ich kannte das Gefühl von diesem Höhenflug mittlerweile sehr gut. Es verschwand nicht. Bei jedem Konzert entfachte die Euphorie erneut und die Angst tauchte auch immer wieder auf, aber sobald du auf der  Bühne stehst und das Licht dich anstrahlt, verfliegt die Angst wieder. Es war so als würde das Licht die Angst aus deinem Körper ziehen und dir die Kraft und Energie geben, die du brauchst, um zu singen. Den Rest brachte dir die Menge, die vor dir war.

Jades Atem ging schwer, aber sie sah glücklich aus. Doch irgendwie hatte ich nicht mehr das Gefühl, dass sie dieses Glück verdiente. Nicht, dass ich es ihr nicht gönnte, aber mit meinen neu gewonnen Informationen kam es mir nicht gerechtfertigt vor. Denn jetzt gerade war Jade das absolute Gegenteil von Reagan. Sie strahlte, obwohl ihr Schwester verblasste. Sie strahlte, obwohl sie das, wofür sie stand, nicht wirklich meinte, nicht wirklich verkörperte. Jade war dafür bekannt, Emotionen in Worte zusammenzufassen, sodass jeder sie verstehen konnte, aber wie nicht jeder sie ausdrücken konnte. Doch das war gar nicht ihr Werk.

Ein schreckliches Gefühl machte sich in mir bemerkbar und unbewusst bereitete ich mich darauf vor, dass das sicherlich noch nicht das Ende war. 

underneath the surface | shawn mendes Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt