[Kapitel 1] -- 4

950 86 3
                                    

"Euer Name ist Kethlyn, nicht wahr?", fragte die Prinzessin nach einer Weile des Schweigens.
"Ja", antwortete diese, während sie ihren Reisesack öffnete, um die Kräutertinkturen herauszufischen, hielt dann aber inne und sah ihr entgegen. "Kethlyn von Gangorian", vervollständigte sie höflicherweise und nickte leicht, um eine Verbeugung anzudeuten.
Freundlich lächelte die Prinzessin und legte die Hand auf ihre eigene Brust. "Varia", stellte sie sich selbst vor.
"Ich weiß."
"Von Gangorian? Ich habe die Geschichte gehört."
"Ja, wer nicht?" Keth zog ihr Oberteil nach oben, um ihren Bauch freizulegen. Mit Wasser beträufelte sie ein Stück Stoff und begann die Wunden, die sie sich beim Kampf im Lager zugezogen hatte, zunächst zu säubern, ehe sie diese mit der Tinktur einrieb. Zu ihrer Erleichterung waren es keine ernsthaften Verletzungen, die größerer Versorgung bedurften. Sie zu säubern und mit Kräutern einzureiben, um die Heilung zu unterstützen, würde reichen.
"Wusste nicht, dass es Überlebende gab."
"Nur Buraq und ich", erklärte Keth, während sie nach weiteren Verletzungen tastete.
"Wie habt ihr das überlebt?" Neugierig beugte sich Varia der Kriegerin entgegen.
"Erwyne."
"Natürlich." Varia nickte und stieß einen Atemzug aus. Dass die Kriegerin vom Anführer der Garde großgezogen worden war, wusste sie, aber das beantwortete ihr immer noch nicht Frage, wie die Kriegerin das Massaker überlebt hatte. Da diese wohl aber auch nicht gewillt war, darüber zu reden, nahm Varia die knappe Antwort zunächst hin.
"Ich kenne Erwyne mein ganzes Leben", versuchte sie das Gespräch aufrechtzuerhalten. "Du bist diese Kriegerin über die er so oft spricht." Sie wickelte das Fell enger um ihren Körper, brachte sich in eine bequemere Position und lehnte sich leicht an die Kriegerin. "Er hat dich großgezogen."
Wieder hielt Keth inne. Erwyne sprach über sie? Mit der Prinzessin? Wohl eher nicht. Mit dem König? Innerlich seufzte sie. Vermutlich nur, um ihren Ungehorsam zu rechtfertigen.
"Er hat mich zu einer Kriegerin ausgebildet", antwortete sie schließlich. Denn großgezogen konnte man es weniger nennen.
"Für Armargon", mutmaßte Varia.
"Für die Rache an ... Borgeus." Den Namen sprach sie mit einem dunklen Knurren aus.
"Was hat ...? Das Massaker von Gangorian war Borgeus??"
Keths leises Raunen verdeutlichte das stumme Nicken. Allein die Erinnerung an den Moment auf der Lichtung erweckte all ihren Hass und ihre Wut von Neuem.
Sein Gesicht hatte sich in ihrer Erinnerung nun so gefestigt, wie es sein Geruch und seine Stimme damals getan hatten.
So viele Male war sie in Varith gewesen. Ein Königreich, das sich ebenfalls oben in den Bergen befand. Hätte sie gewusst, dass der Schlächter ihrer Familie nur ein wenig nördlicher gewesen war, hätte sie ihre Rache längst schon ausüben können. Es ärgerte sie, diese Kenntnis zu ziehen. Warum musste er ausgerechnet dann vor ihr stehen, wenn sie eine andere Mission zu erledigen hatte?
Es war ihr wirklich schwer gefallen, sich zwischen ihm und der Prinzessin zu entscheiden. Fünfzehn Sommer hatte sie auf solch einen Moment gewartet, fünfzehn Sommer hatte sie genau dafür so hart gearbeitet, um sich an all dem Leid, das er ihr angetan hatte, rächen zu können.
Dann aber war ihr bewusst geworden, dass die Prinzessin eine höhere Priorität hatte. Aber sie schwor sich, wieder in den Norden zurückzukehren, sobald sie die Königstochter nach Hause gebracht hatte. Jetzt, da sie endlich wusste, wer ihre Familie getötet und ihr Dorf zerstört hatte, konnte sie ihn jederzeit aufsuchen.
"Bist du dir sicher? Es heißt, durchreisende Banditen wären es gewesen. Was hat Borgeus denn davon ein kleines Dorf zu zerstören? So weit im Süden?"
Keth aber zuckte nur mit der Schulter, packte die Utensilien wieder in den Reisesack zurück und zog ihr Oberteil zurecht.
Als Varia merkte, dass sie keine weitere Antwort erhielt, lehnte sie sich wieder zurück gegen die Wand und nibbelte schweigend auf einem zweiten Stück Dörrfleisch herum.
Wortlos legte sich Keth die zweite Decke um ihren Körper und lehnte sich wieder an die lehmige, mit Wurzeln behangene Wand zurück. Ihren Bogen und den Köcher legte sie griffbereit neben sich.

"Ihr solltet Euch ausziehen", riet sie der Prinzessin, als sich diese hinlegte und sich das Bärenfell so um sich wickelte, damit sie es auch ein wenig als Kissen nutzen konnte.
"Bitte?", kam es geschockt. Die ohnehin schon helle Stimme um eine Oktave höher.
"Ihr solltet Euch ausziehen", wiederholte die Kriegerin. Den Kopf ebenfalls wieder gegen die Wand gelehnt, die Augen aber zu der kleineren Blonden gerichtet. "Sonst friert Ihr morgen in Eurer Kleidung", fügte sie erklärend hinzu.
"Ich friere jetzt schon. Da willst du mir erzählen, dass ich weniger friere, wenn ich mich entkleide?"
"Ja."
"Ziehst du dich auch aus?", kam es unverhofft.
"Nein."
"Wieso soll ich es dann tun?"
"War nur ein Rat." Gleichgültig zuckte die Kriegerin mit den Schultern.
"Wieso ziehst du dich nicht aus, wenn es gegen die Kälte hilft?", hakte die Blonde stur nach.
"Ich hab' nicht gesagt, dass es gegen die Kälte hilft", korrigierte Keth und erhielt einen missbilligenden Blick der Prinzessin. "Nur, dass ihr dann in Eurer Kleidung weniger friert."
"Das war nicht die Antwort auf meine Frage", schnaubte Varia wütend.
"Ich möchte mich weder erst anziehen müssen, wenn wir angegriffen werden, noch halbnackt durch den Schnee rennen." Abwartend hob sie ihre Augenbraue. Noch einen kurzen Moment spürte sie den abschätzenden und musternden Blick der Prinzessin auf sich hängen, ehe diese das offensichtlich als Antwort akzeptierte.
"Können wir nicht doch ein Feuer machen?", fragte Varia schließlich mit flehender Stimme.
"Nein."
"Nur ein ganz kleines."
"Nein."
"Hmpf", schnaufte die Königstochter frustriert, wickelte das Bärenfell noch dichter um sich und rollte sich zusammen. Trotzdem wich die Kälte nicht zurück und ließ sie zittern.
Sie drehte ihren Kopf und sah die Kriegerin an, die neben ihr saß. Aber die schemenhafte Silhouette verharrte still und sie fragte sich, wie es ihr möglich war, nicht zu frieren. Immerhin hatte Keth keinen Mantel und nur eine Decke um sich, im Gegensatz zu ihr, die den dicken Mantel der Kriegerin über ihrem Kleid trug und in ein dickes Bärenfell gewickelt lag.
"Mir ist so kalt", stieß sie leise wimmernd aus und zog das Fell über ihren Kopf. Diese Äußerung galt weniger der Kriegerin, viel mehr nur ein Gedanke, der sich über ihre Lippen geschlichen hatte.

Keths Blick senkte sich zu dem zitternden Körper neben sich.
Natürlich wollte sie nicht, dass die Prinzessin fror, aber ein Feuer war einfach zu gefährlich. Sie wusste nicht, ob ihnen die Feinde gefolgt waren, oder ob die Krieger das hatten verhindern können, aber ein Feuer könnte Borgeus' Soldaten anlocken, wie das Kerzenlicht die Mücken. Abgesehen davon war es recht unwahrscheinlich, bei Nacht ein paar trockene Zweige und Laub zu finden, um ein kleines Feuer damit füttern zu können.
Ein frustriertes Raunen durchbrach ihre Lippen. Um zu verhindern, dass die Königstochter fror, gab es nur eine weitere Möglichkeit.
"Ich könnte Euch wärmen", schlug sie murmelnd vor.
Vorsichtig zog Varia das Fell zur Seite und streckte ihren Kopf hervor, um die Kriegerin ansehen zu können. "Bitte?"
"Ich ... könnte Euch wärmen", wiederholte Keth zögerlich, "aber dafür müsste ich zu Euch unters Fell ..."
Schweigend setzte sich Varia auf und sah die Kriegerin abschätzend an.
"Körperwärme ist die beste Wärme", murmelte sie wieder zur Erklärung, ihr Blick nun gesenkt. Ihr war es unangenehm, der Tochter des Königs dieses Angebot zu machen. Aber lieber kämpfte sie halbnackt im Schnee, wenn es sein musste, als dass ihr die Prinzessin über Nacht erfror.
"In ... Ordnung", kam es unsicher von Varia, die mit ihrem Blick der Kriegerin folgte, die sich daraufhin erhob und sich offensichtlich ihre Kleidung vom Leib streifte.
"Was tust du da??", fragte sie geschockt.
"Mich entkleiden", kam es selbstverständlich. "Ich habe nicht vor, morgen zu frieren."
Mit einem tiefen Schlucken nickte Varia und erlaubte der Kriegerin, zu ihr unter das Fell zu kommen. Diese legte sich sofort auf den Rücken und streckte ihren linken Arm aus.
"Schmiegt Euch an mich."
"Na gut", murmelte Varia nach einem Moment des Zögerns und legte sich ebenfalls wieder hin. Vorsichtig rückte sie näher, aus Angst, sie könnte die Kriegerin unsittlich berühren. Atmete aber erleichtert aus, als sie fühlte, dass Keth nicht gänzlich nackt war, sondern noch ein Leinenhemd trug.
Diese legte das Schlaffell richtig über den Körper der Prinzessin, dann ihren Arm um sie und drückte sie an sich.
Varia wusste nicht, ob es Keths Körperwärme war, oder ihr eigenes Blut, das nun schneller durch ihre Adern schoss, aber ihr wurde angenehm warm und schließlich entspannte sich ihre Muskulatur. Das Zittern verebbte und die Kälte verflog.
Die wohlige Wärme, die Keth ausstrahlte fühlte sich sogar besser als ein Feuer an.
Um dies intensiver zu spüren, drückte sie sich noch etwas fester an die Kriegerin.

Keth selbst schluckte schwer. Eigentlich hatte sie gehofft, die Prinzessin würde das Angebot ablehnen. Und ehrlich gesagt, hatte sie auch gar nicht damit gerechnet, dass diese das überhaupt annehmen würde.
Aber zurückrudern war keine Option gewesen, vor allem nicht, weil sie gesehen hatte, wie sehr die Königstochter mit der Kälte zu kämpfen hatte.
Mit einem tiefen Atemzug schloss Keth die Augen. Es war ungewöhnlich für sie. Üblicherweise teilte sie eine Schlafstätte nur zu anderen Zwecken mit jemanden. Nicht aber um nur zu schlafen.

Schlafen würde sie aber nicht können. Denn abgesehen davon, dass sie ihr Gehör auf der Umgebung halten musste, würden ihre Gedanken sie sowieso nicht schlafen lassen.
Immer noch kreisten diese um den heutigen Tag. Um das, was im Heerlager passiert war.
Borgeus.
Der König aus dem Norden war bekannt. Wieso also hatte man nicht gewusst, dass er es gewesen war? Durchreisenden Banditen hatte man das Massaker zugeschrieben. Verächtlich schnaubte Keth. Banditen wären niemals einfach so durch ein Dorf und hätten es zerstört, ohne es zu plündern. Außerdem hätte ihr Vater sich gegen sie wehren können. Auch wenn er nur als einfacher Pferdezüchter bekannt gewesen war, so hatte er zu kämpfen gewusst. Immerhin hatte sie von ihm den Umgang mit dem Bogen gelernt. Das Schleichen, das Benutzen ihrer Sinne, das Jagen und auch das Kämpfen. Er war ihr ein weiser Meister gewesen. Ihr Vorbild.
Etwas, das Erwyne nie für sie gewesen war; es auch nie hätte werden können. Aber er hatte auf dem Fundament ihres Vaters weiter aufgebaut und ihr bereits vorhandenes Können verstärkt. Und er hatte ihr erlaubt, die Rache zu fühlen und sie als Motivation zu nutzen, niemals aufzugeben.
Sie waren sich selten einig, und doch schätzte sie ihn dafür, sie zu dem gemacht zu haben, was sie hatte werden wollen.

Armargon - Die Rache der KriegerinWo Geschichten leben. Entdecke jetzt