Kapitel 6

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„ALs Sascha sein Fahrrad auf den Bürgersteig schob, unterdrückte er mit Mühe ein Gähnen. Joy wartete vor dem Haus auf ihn, vibrierend wie ein Rennpferd vor dem Start.
»Einen wunderschönen guten Morgen!« Woher nahm sie nur so früh schon diese Energie?
»Na, fit für die letzte Runde?«
Daran wollte er lieber nicht erinnert werden. Das letzte Schuljahr, Büffeln für die Abiturprüfung - ihm graute jetzt schon davor.
»Wieso bist du so gut drauf?«, maulte er. »Am ersten Schultag!«
Joy zuckte die Schultern. »Ich weiß gar nicht, was du hast! Die Sonne scheint, die Vögel zwitschern, die Autos hupen. Und das bisschen Schule.«
Das konnte sie nicht ernst meinen. Schließlich war er derjenige mit den Supernoten und sie die Sitzenbleiberin, die sich nur dank des Wechsels auf eine Privatschule halbwegs auf Durchschnittsniveau berappelt hatte.
»Du nervst«, sagte er „und verkniff sich hartnäckig das Lächeln, das in seine Mundwinkel drängte.
Selbst ein erster Schultag war gar nicht so schlecht, wenn er mit Joy begann. Sie sah wieder einmal umwerfend aus mit dieser wilden Hochsteckfrisur, dem zitronengelben Sweatshirt und dem zerschlissenen Rucksack, den ein handtellergroßer Aufkleber mit der Aufschrift Girls United zierte. Zu schade, dass ihre Wege sich an der nächsten Kreuzung schon wieder trennten.
Trotzdem war es viel besser als die unzähligen Tage im letzten und überhaupt allen Jahren davor, an denen er sich ganz alleine auf den Weg in die Schule hatte machen müssen. Es wäre definitiv ein Fehler gewesen, nach der Enttäuschung wegen des Cabrio-Typen ganz mit ihr zu brechen. Freundschaft war immer noch besser als nichts.
„Außerdem hatte er selbst vielleicht schon bald Natalie. Bisher hatten sie zwar nur telefoniert und sich lediglich ein weiteres Mal kurz in einem Café getroffen, aber sie waren ja auch noch dabei, sich kennenzulernen. Natalie begann, sich ihm langsam zu öffnen. Vieles, was sie von sich preisgab, blieb zwar nur Andeutung, aber er schüttete ihr ja auch nicht gleich sein ganzes Herz aus. Dass sie in der Schule lieber noch Abstand halten wollte, verstand er nur zu gut und war ihm sogar recht, denn der Schulhofklatsch war in seiner Gehässigkeit gnadenlos. Nächste Woche würde dann vielleicht ein weiterer Schritt getan, wenn sie endlich miteinander ins Kino gingen.
„Etwas munterer geworden, stieg Sascha auf, und sie radelten los. Eine Minute lang war zwischen ihnen nur das Knirschen seiner Kette zu hören und das trockene Wetzen seines Schutzblechs, wenn die Pedalkurbel darüberstrich. Die ganze Zeit beäugte Joy sein Fahrrad kritisch.
»Deine Kette würde ein paar Tropfen Öl vertragen«, sagte sie schließlich. »Und die Gangschaltung solltest du neu einstellen. Funktionieren die Bremsen überhaupt?«
»Bist du der TÜV, oder was? Du kannst mein Fahrrad heute Nachmittag gerne durchchecken.«
»Super! Ich nehme übrigens zehn Euro die Stunde.«
»Aber nicht von mir.«
»Ach. Und warum nicht?«
Er grinste breit. »Weil man von seinem besten Freund kein Geld nimmt.«
»Und wer sagt dir das?«
„»Was? Dass du von deinem besten Freund kein Geld nimmst?«
»Nein. Dass du mein bester Freund bist.«
Sascha schwieg. Natürlich wollte sie nur frech sein und Kontra geben, sagte er sich. Aber sie hatte ja recht. Sie kannten sich noch nicht einmal zwei Monate. Eigentlich erst sechs Wochen. So schnell wurde man nicht beste Freunde, selbst wenn man sich gut verstand. Und doch hatte ihm ihre Direktheit einen Stich versetzt.
Plötzlich knuffte Joy ihn in die Seite und rief: »Strampeln nicht vergessen, bester Freund. Oder soll ich dich ziehen?«
»Lächerlich! Wer als Erster an der Kreuzung ist!«

DAS WAR ECHT das Letzte. Sascha wartete nun schon eine halbe Stunde vor dem Eingang des CinemaxX. Er hatte die bestellten Karten abgeholt, der Film fing in einer Minute an - wer nicht kam, war Natalie. Gefühlte tausend Mal hatte er sie schon angerufen. Immer nur die Mailbox. Kein Rückruf, keine SMS, kein Garnichts.
„Ob ihr was passiert war? Immer der erste Gedanke. Der Gedanke, warnte er sich selbst, der nicht gedacht werden durfte und sofort abgewürgt werden musste, bevor die Angst zu mächtig wurde, die Spirale in Gang kam und ihn runterzog. Solche Dinge passieren natürlich, hörte er Androschs Stimme in seinem Kopf, aber nicht so oft, wie deine schlimme Erfahrung dich glauben lässt. Also kein Unfall, kein plötzlicher Herzstillstand, kein Mord. Was blieb? Die Antwort war so einfach wie offensichtlich: Natalie versetzte ihn.
Blöde Kuh, dachte er halbherzig. Eigentlich hatte er keine Lust, allein im ausverkauften Kino zu sitzen, mit dem einzigen leeren Platz im Saal neben sich; andererseits hatte er die Karten schon, und er wollte den Film unbedingt sehen. Fünf Minuten warte ich noch, entschied er, dann geh ich rein.
„Nach zehn Minuten ging er ins Foyer. So lange dauerten ungefähr Werbung und Vorschau im CinemaxX. Die genervten Blicke der Leute, die gleich seinetwegen aufstehen mussten - geschenkt. Vor dem Kino 4 nahm er eine der beiden Karten, verwandelte sie in Konfetti und warf sie in die Luft. Dann ging er auf den Kartenabreißer zu.

"Stirb leise,mein Engel"Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt