Kapitel 4

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„DAS ROTE CABRIO holperte über das mit Teerflicken ausgebesserte Kopfsteinpflaster. Sonntäglicher Friede überall; pulsierendes Leben, aber ohne Hektik. Die Geschäfte waren geschlossen, dafür herrschte in den Cafés, Eisdielen und Biergärten Hochbetrieb. Die Leute in leichten, kurzen Klamotten, mit Eiswaffeln und -bechern in der Hand, endlich mal nicht von A nach B hetzend. Sommer in der Stadt. Joy liebte das. Diese sinnenfrohe Atmosphäre. Den süßen Duft, wenn man vom See kam, eine Mischung aus Sonnenmilch, Wasser, Gras und Erde. Sie streckte ihre Arme hoch, ließ den Fahrtwind durch die gespreizten Finger streichen. Er schien nach ihr zu greifen, als wolle er sie zum Tanzen auffordern.
»War doch schön, unser kleines Picknick am See, oder?«
Joy sah in zwei schwarze Sonnenbrillengläser, in denen sie ihr eigenes Spiegelbild erblickte. »Echt super.«"

„Alfi setzte den Blinker und zog auf die Linksabbiegerspur. Die Ampel schaltete auf Gelb, dann auf Rot, er hielt an. Kaum standen die Räder still, schob er schon seine Sonnenbrille ins Haar und neigte sich zu ihr. »Liebe ist, sich bei Rot zu küssen«, sagte er und spitzte die Lippen. Sie näherte sich ihm, doch dann lenkte ein Schmetterling sie ab, der sich flatternd auf dem Rahmen der Frontscheibe niederließ.
»Schau mal!«, rief sie.
Alfi wandte den Kopf. »Cool. Das ist ein Pfauenauge. Wo kommt der denn her?«
Er streckte ihm den Zeigefinger entgegen. Unglaublich, aber der Schmetterling nahm die Einladung an und ließ sich auf dem Finger nieder.
»Alle lieben Alfi«, sagte Alfi scherzhaft und zwinkerte Joy zu.
Aber keiner liebt Alfi so sehr wie Alfi sich selbst, dachte sie spontan."

„Hinter ihnen plärrte eine Hupe. Grün. Alfi ließ das Pfauenauge fliegen, legte den Gang ein und fuhr los. Joys Blick folgte dem Falter, bis er sich in der blauen Luft verlor.

NACHDENKLICH SCHLENDERTE JOY zur Haltestelle. Sie schämte sich dafür, dass sie einfach so davongeschlichen war, aber sie hatte es nicht mehr ausgehalten. In diesem engen Bett, gefangen in seiner Umarmung. Wie immer war er gleich danach eingeschlafen, während sie, hellwach und mit wachsendem Unbehagen, die Schattenlinien der Jalousien an der Wand betrachtete. Warum konnte es nicht immer so bleiben wie am Anfang? Warum musste sich alles verändern? Jetzt, an der Bushaltestelle, war ihr Körper immer noch satt; und doch fühlte sie sich irgendwie leer. Würde es irgendwann mal einfach nur schön bleiben, ohne diesen bitteren Nachgeschmack?
Joy schaute auf dem Fahrplan nach dem nächsten Bus."

„Zehn Minuten noch. Sie stellte die Tasche mit ihren Badesachen ab. Alfi war süß. Und total verliebt in sie. Okay, seine Eitelkeit nervte manchmal, aber hatte nicht jeder seine kleinen Fehler? Daran lag es sicher nicht, dass ihre Gefühle für ihn mehr und mehr verblassten. Dabei hatte sie gehofft, geglaubt, diesmal würde es reichen. Suche ich etwas, das es gar nicht gibt?, fragte sie sich.

»DEIN VATER HAT angerufen. Er fragt, ob du diesen Sommer kommst.«
Joy legte ihre Badesachen ab. Ihre Mutter stand in der Wohnzimmertür, in ihrem luftigen Sommerkleid, mit diesem Blick, der sagte: Es wäre mal wieder Zeit ...
»Ich hab keine Lust auf Lattimar, Alabama.« Joy brachte die beiden Wörter nie ohne gleichzeitiges Augenrollen über die Lippen. »Wieso kann er nicht in New York leben? In San Francisco? Oder wenigstens in einer Stadt wie Boston?«"

„»Das musst du ihn schon selbst fragen. Und dass du dieses Jahr wieder nicht kommst, sagst du ihm auch selbst, klar?«
Sie verschwand in die Küche, und Joy folgte ihr. Wieso musste ihre Mutter ihr immer ein schlechtes Gewissen machen? Das hatte sie auch so schon.
»Das ist doch ohnehin alles nur Krampf. Seien wir doch mal ehrlich. Er ist ein Fremder für mich. Von seiner Familie ganz zu schweigen. Und ich bin für ihn auch eine Fremde.« Sie nahm einen Apfel aus dem Obstkorb, biss hinein und sagte mit vollem Mund: »Bloß weil ihr beide euch nicht beherrschen ... Also, ich meine ...« Sie erntete einen finsteren Blick. »Ist ja schon gut, Mama, aber was verbindet mich schon mit ihm?«
Ihre Mutter trat auf sie zu. Sie zwickte Joy in die Wange. »Das hier.«
Joy entwand sich ihrem Griff. »Schönen Dank auch. Du weißt genau, was ich mir deswegen schon alles anhören musste.«
Sie hatte keine Lust mehr auf diese Diskussion und verließ die Küche, ehe ihre Mutter etwas sagen konnte."

„Als sie in ihrem Zimmer gerade eine CD einlegen wollte, hörte sie sie vom Flur aus rufen: »Deine Badesachen hängen sich nicht von selbst auf!«
»Oh nee«, entfuhr es ihr, »hat man denn hier nie seine Ruhe!« Sie stampfte mit dem Fuß auf und lief in den Flur. Da hörte sie Gitarrenmusik, die von draußen hereindrang. Das konnte eigentlich nur Sascha sein. Was spielte er da? Die Nummer kannte sie gar nicht, aber sie hörte sich richtig gut an.
Plötzlich konnte sie dem Befehl ihrer Mutter nicht schnell genug nachkommen. Sie zerrte die nassen Badetücher aus ihrer Tasche, trug sie leichten Schrittes auf den Balkon und warf eines nach dem anderen über die Leine. Danach streckte sie den Kopf über die Trennwand. Sascha saß auf einem Hocker und zupfte an seiner Gitarre. Mit seinen wuscheligen Haaren, dem alten T-Shirt und der abgewetzten Jeans sah er aus wie einer dieser Folksänger aus den Sechzigern oder Siebzigern. Total lässig, irgendwie. Sie mochte ihn echt gern. Und dass er anscheinend manchmal seine Launen hatte, so wie vor Kurzem, als er ohne Grund plötzlich total muffig und abweisend gewesen war, musste man eben hinnehmen. Wahrscheinlich hing es mit dem schrecklichen Tod seines Vaters zusammen. Sie hatte nicht nachgebohrt und ihn einfach in Ruhe gelassen, und er hatte sich dann ja auch wieder eingekriegt. Seither war nichts mehr gewesen.
»Hey!«, rief sie auf die andere Seite. »Geiler Song. Von wem ist der?«
»Von mir«, sagte er mit einem verhaltenen Lächeln und hörte auf zu spielen.
»Von dir? Mann, du wirst mir echt unheimlich. Du zeichnest und schreibst eigene Songs?!«
»Einen Song komponieren, ist nicht so schwer, wenn man mal die grundsätzlichen Sachen kann.«
»Sorry, ich kann nur MP3-Player.« Sie grinste. »Darf ich rüberkommen, oder stör ich?«
»Überhaupt nicht. Ich mach dir auf.«
»Nicht nötig. Spiel lieber weiter.«
Joy stieg über das Geländer, hangelte sich an der Mauer vorbei und kletterte auf der anderen Seite auf den Balkon. Er sollte auch was zu staunen haben. Aber das funktionierte anscheinend nicht so richtig. Sascha sah sie bloß mit einem Kopfschütteln an.
»Du bist bekloppt.«"

„»Nee, bloß sportlich. Du sollst weiterspielen, hab ich gesagt.«
Sie lehnte sich ans Geländer, lauschte und betrachtete Sascha dabei: seine dunklen Locken, die ihm bis über die Brauen hingen, das fein geschnittene Gesicht mit den großen, immer etwas traurigen braunen Augen, die schönen Hände und Finger, die den Gitarrensaiten so wunderbare Melodien entlockten.
»Was ist?«, fragte er, ohne sein Spiel zu unterbrechen. »Was guckst du so?«
»Nur so.«
Nachdem sie sich kurz in die Augen gesehen hatten, senkte er den Blick, während sie ihn weiter ansah.
Nein, er war noch lange kein Mann, aber er war definitiv ein Junge mit Potenzial."

"Stirb leise,mein Engel"Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt