Kapitel 7

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„»HAST DU'S SCHON gehört, Schmidti?«
Jan kam schnurstracks auf Sascha zu. Aber er schien keinen seiner üblichen Sprüche ablassen zu wollen. Sein Gesicht war ernst wie bei einer Beerdigung.
»Was?«, fragte Sascha.
»Von unserer Schule hat sich jemand umgebracht.« Er grinste kurz in seine Betroffenheitsmiene hinein. »Leider keiner von den Lehrern.«
Sascha blieb stehen. Da war sie wieder: die Angst. »Und wer?«
»Keine Ahnung. Eine aus der 10a, glaub ich.«
10a. Das war Natalies Klasse.
»Ein Mädchen?«
»Glaub schon. So eine von den Stillen. Hast du zufällig Mathe gemacht?«
Natalie! Der erste Gedanke. Es ist Natalie!
Sascha ließ die Träger seines Rucksacks von den Schultern rutschen. Mechanisch schnürte er ihn auf, griff hinein, zog ein Heft heraus, hielt es Jan hin.
»Ey, Alter, was ist denn mit dir? Du zitterst ja wie 'n Junkie auf Entzug.«
Sascha antwortete nicht und ging an Jan vorbei Richtung Schuleingang. Erst langsam, dann immer schneller. Wie ein Roboter. Ein Roboter, der panische Angst hatte.

DIE TÜR ZUM Klassenzimmer der 10a war zu. Drei Minuten vor dem zweiten Läuten. Hatte das was zu bedeuten? Sascha blieb stehen, atmete tief durch. Sein Herz hämmerte wie wild. Die Tricks von Androsch halfen nicht mehr, zu spät „hatte er sich an sie erinnert, erst als der Kreis der Angst sich schon geschlossen hatte. Ungestüm riss er die Tür auf. Es sollte aussehen, als habe er sich im Zimmer geirrt. Die Stille, gegen die er prallte, erinnerte ihn an die Stille in der Leichenhalle, in der sein Vater im Sarg gelegen hatte. Die Stille im Innern eines Eisblocks. Frau Beyerle, die laut Natalie total ätzende Klassenlehrerin, stand vor der leeren Tafel und sah ihn groß an. Genau wie ungefähr fünfundzwanzig weitere Augenpaare. Einige von ihnen, so schien es ihm, waren tränennass.
»Ja?«, fragte Frau Beyerle.
Er wusste ungefähr, wo Natalies Platz war, er sah sie manchmal vom Hof aus. Am Fenster, schätzungsweise in der dritten Reihe. Ein Platz dort war leer. Ihr Platz.
»'tschuldigung«, nuschelte er und machte die Tür wieder zu.
Dann kam das zweite Läuten.

SASCHA TRAT SO fest in die Pedale, wie er nur konnte. Rote Ampeln kümmerten ihn nicht.
„Zweimal landete er fast auf der Motorhaube eines Autos. Quietschende Bremsen. Brüllende Hupen. Er registrierte es, mehr nicht. Was ging es ihn an? Nur eins zählte: dass es nicht schon wieder passiert war. Es durfte nicht schon wieder passiert sein!
Obwohl er noch nie bei Natalie zu Hause gewesen war, wusste er, wo sie wohnte. Er bog in ihre Straße ein, Hausnummer siebzehn. Musste auf der linken Seite sein. Als er die Nummer über der Haustür sah, wurde ihm mulmig. Und wenn du völlig überdrehst und sie bloß blaumacht?, fragte er sich. Megapeinlich wäre das. Ohne es abzuschließen, stellte er sein Fahrrad neben dem Eingang ab, suchte den Namen Wagner auf der Klingelleiste. Fand ihn. Drückte den Knopf. Wartete.
»Komm rauf. Zweiter Stock links.«
Eine Frauenstimme, sehr leise, sehr undeutlich. Natalie? Ihre Mutter? Anscheinend erwarteten sie jemanden.
Ehe Sascha etwas sagen konnte, surrte schon der Türöffner. Er drückte die Tür auf und ging rein. Hier war er also. In einem Treppenhaus, das roch wie ein verschwitztes T-Shirt. Und was wollte er? Wer vor der Angst davonläuft, läuft ihr genau in die Arme. Dieser schlaue Satz von Androsch kam ihm in den Sinn.
„Erst jetzt verstand er, was er bedeutete. Und wie viel Wahrheit darin lag.
Stufe für Stufe stieg er höher. Im zweiten Stock nahm er den Flur zur Linken. Eine Tür war halb offen. Auf einem Schild neben der Klingel stand der Name Wagner. Er schob die Tür auf, trat ein.
»Hallo?«
Und dann stand sie vor ihm: Natalie.
Total verheult, blass wie ein Stück Kreide, aber: Sie lebte!
Berge von Steinen fielen ihm vom Herzen.
Was für ein Glück!
Für fünf oder zehn Sekunden. Dann aber ...
»Ach, du bist das.« Sie wirkte enttäuscht. »Was willst du hier?«
»Ich dachte ...«
»Was?«
»Äh ... In der Schule wird erzählt ... Ein Mädchen aus deiner Klasse soll sich ...« Er verschränkte und verbog seine Finger. »Und du warst nicht da ...«
»Da dachtest du gleich an mich?«
Verlegen stand er da. »Ich hab mir nur Sorgen gemacht ...«
Sie atmete schwer. »Alina«, hauchte sie dann. »Das ist echt ... Total heftig ist das ... Ich ... krieg das einfach nicht auf die Reihe ... überhaupt nicht ...«
Ihre Lippen wurden schmal, ein Kräuseln trat auf ihr Kinn, Tränen füllten ihre Augen. Doch kurz bevor es sie überwältigte, fing sie sich wieder.
„»Ich wusste gar nicht, dass Alina in deiner Klasse ist, äh ..., war.«
»Nur bis letzten Februar, dann haben ihre Eltern sie von der Schule genommen, weil sie das Schuljahr eh nicht geschafft hätte.«
»Ach so.«
»Lass uns später reden, Sascha. Es kommt gleich Besuch.«
Sascha bewegte sich nicht vom Fleck. Wieso sagte sie Besuch und nicht mein Onkel oder eine Freundin? Was verbarg sie vor ihm?
»Tut mir echt leid wegen gestern, ich meine Kino und so. Ist eigentlich nicht meine Art. Aber ich hab's kurz vorher erfahren, das mit Alina, und ich konnte rein gar nichts mehr, nicht mal telefonieren. Ich stand voll unter Schock. Verstehst du? Voll unter Schock. Aber jetzt musst du echt gehen. Ich ruf dich an.«
Während sie redete, drängte sie ihn zur Tür, die noch immer offen stand, und hinaus auf den Flur. »Danke, dass du gekommen bist, Sascha. Das ist echt lieb von dir.« Sie küsste ihn auf die Wange, dann schlug die Tür vor seiner Nase zu.
Was war bloß mit ihr los? Er fragte sich, ob er nun ein Held oder doch eher ein Idiot war.
Auf dem Weg nach unten hörte er eilige Schritte.
„Als er um die nächste Wende bog, sah er einen Mann die Treppe heraufstürmen. Einen Mann, den er gut kannte. Dr. Androsch. Als der Therapeut ihn bemerkte, blieb er schlagartig stehen. Das ist also Natalies Besuch, dachte Sascha. Seit wann machten Seelenklempner eigentlich Hausbesuche?
Androsch hatte den Schreck vor ihm verdaut. »So ein Zufall«, sagte er verlegen.
»Ist aber kein Zufall. Ich war bei Natalie.«
»Ach. Ihr habt euch angefreundet? Wieso hast du das nie erwähnt?«
Sascha zuckte die Achseln. »Hätte ich müssen?«
»Nein, natürlich nicht. Wie geht es ihr?«
»Sie war jedenfalls nicht kurz davor, aus dem Fenster zu springen.«
»Gut. Das ist gut.« Androsch ging an ihm vorbei, blieb aber hinter ihm noch einmal stehen, drehte sich halb um und sagte: »Wir sehen uns Ende der Woche.«
»Klar. Und Natalie? Ist die jetzt auch wieder bei Ihnen in Behandlung?«
»Nein, nein. Das ist ein Notfall. Eine Ausnahme.«
Damit ging Androsch endgültig.
Was geht hier eigentlich ab?, fragte sich Sascha auf dem Weg nach unten.
Auf der Straße erwartete ihn die nächste Überraschung: Sein Fahrrad war weg.

"Stirb leise,mein Engel"Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt