Kapitel 5

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„SASCHA WUSSTE SOFORT, dass er das Mädchen mit der zerschlissenen Handtasche, das eben in den Bus gestiegen war, schon mal gesehen hatte. Große, dunkle Augen, spitze Nase und ebenso spitzes Kinn, kirschförmiger Mund. Woher kannte er sie nur? Vielleicht aus der Schule? Dann fiel es ihm ein. Sie hatte auf den Stufen vor Dr. Androschs Praxis gesessen, nach seinem ersten Termin bei ihm. Ohne ihn anzusehen, ging sie an Sascha vorbei und setzte sich ein paar Sitze hinter ihn. Irgendwie hatte er das Gefühl, dass sie permanent seinen Nacken anstarrte. Aber wahrscheinlich bildete er sich das nur ein."
„Drei Haltestellen später stieg er aus. Jetzt lagen noch zehn Minuten Fußweg vor ihm. Nachdem der Bus weggefahren war, schaute er kurz über die Schulter. Das Mädchen war auch ausgestiegen. Folgte sie ihm? Quatsch, dachte er. Wieso sollte sie? Wahrscheinlich wohnt sie hier irgendwo. Vor Androschs Praxis angekommen, stapfte er die Stufen hinauf und drückte die Klingel. Sekunden später surrte der Türöffner. Sascha drückte die Haustür auf.
»Warte mal!«
Er drehte sich um. Das Mädchen stand auf der untersten Stufe und sah schüchtern zu ihm herauf.
»Was ist?«
»Du gehst doch zu Dr. Androsch, oder?«
»Äh ... Ja. Und?«"
„Sie griff in die Handtasche, die über ihrer Schulter hing. Ein mehrfach zusammengefalteter Zettel kam zum Vorschein. »Kannst du ihm das geben?«
»Was ist das?«
»Nichts Schlimmes. Nur eine ... Nachricht.«
»Und warum gibst du ihm die nicht selbst? Oder schmeißt sie in den Briefkasten?«
»Weil ... Das ist nicht so leicht zu erklären ... Mach's doch einfach, und frag nicht so viel! Bitte!« Sie legte den Kopf schräg und sah ihn aus großen Augen an. Wie sollte er da Nein sagen?
Ihr Gesicht hellte sich sofort auf, als er den Zettel aus ihrer Hand nahm.
»Super! Ich warte hier.«"
„Zum ersten Mal stand Androsch nicht an der offenen Tür. Erst als das Parkett unter Saschas Schuhen knarzte, kam er in die Diele. »Du bist heute ziemlich spät dran«, sagte er. »War was?«
»Irgendwie schon.«
»Und was?«
»Das hier.« Sascha reichte ihm den Zettel. »Hat mir vor dem Haus ein Mädchen für Sie mitgegeben.«
»Ich kann mir schon denken, wer das ist.« Androsch steckte den Zettel ungelesen in die Hosentasche. »Komm, fangen wir an.«

»UND? WAS HAT er gesagt?«"
„Sie hatte wirklich gewartet. Eine geschlagene Stunde. Sascha fand das mehr als seltsam. Auch wie sie jetzt hibbelig von einem Bein auf das andere trat. Was lief da ab zwischen ihr und Androsch? Oder eher bei ihr.
»Wie heißt du eigentlich?«, fragte er.
»Natalie. Jetzt sag schon.«
»Ich bin Sascha.«
»Hübscher Name.« Sie lächelte freundlich, aber er wusste genau, dass sie etwas ganz anderes interessierte.
»Okay, das hier hat er mir für dich gegeben.«
Sie griff sofort nach dem Umschlag, den er ihr hinhielt, riss ihn auf und las die Zeilen mit einer Anspannung, als hinge ihr Leben davon ab. Was im krassen Gegensatz zu der Beiläufigkeit stand, mit der Androsch die Sache behandelt hatte. Für die Antwort hatte er, so viel hatte Sascha mitgekriegt, einfach die Rückseite ihres Zettels benutzt.
»Bist du in ihn verknallt?«"
„»Ich? In wen?«
»Na, in Dr. Androsch.«
Bingo! Sie versuchte seine Frage zwar wegzulächeln, aber das gelang ihr nicht, denn ihr Gesicht nahm mehr und mehr die Farbe eines Feuerlöschers an.
»Sorry«, sagte Sascha in ihr verlegenes Schweigen hinein, »geht mich ja auch nichts an.«
Sie stopfte Zettel und Umschlag in ihre Handtasche. »Es ist echt nicht so«, schob sie ein wenig hilflos nach.
Ihre Verlegenheit weckte etwas in Sascha, er wusste selbst nicht genau, was. Mitgefühl? Beschützerinstinkt? Ohne groß zu überlegen, fragte er: »Lust auf 'n Kaffee?«
Sie zuckte mit den Schultern. »Weiß nicht.«
»Ach, komm. Ich stell auch keine unverschämten Fragen. Ehrenwort.«"
„»Na dann.« Ihr Kirschmund lächelte, während ihr Gesicht allmählich wieder eine normale Farbe annahm. »Warum nicht?«
Zwei Straßen weiter fanden sie ein kleines Oma-Café, das zu einer Konditorei gehörte und in dem kaum Leute saßen. Sascha wollte in so einem spießigen Laden eigentlich nicht gesehen werden, aber Natalie fand es okay, sie war anscheinend nicht wählerisch. Nachdem sie sich in die plüschigen Sessel hatten sinken lassen, kam sofort die Bedienung an den Tisch gerauscht, eine blondierte ältliche Dame mit weißer Schürze. Sie bestellten beide Cappuccinos.
»Wie lange bist du schon bei Dr. Androsch?«, fragte Natalie.
»Ein paar Wochen.«
»Und wie findest du's bei ihm?«
»Ganz okay.«"
„»Also, hör mal, er ist sehr viel mehr als nur okay!«
Sascha zuckte mit den Schultern. Dr. Androsch war nicht das Thema, das ihn interessierte. »Wieso erzählst du mir nicht mal was über dich? Was machst du so? Wenn du nicht gerade vor Androschs Praxis rumstehst und fremden Jungs Zettel in die Hand drückst, meine ich.« Den hatte er sich einfach nicht verkneifen können.
»Ha, ha«, machte sie und verzog den Mund. Ihre Miene entspannte sich aber gleich wieder, sie schaute sich nach allen Seiten um. »Hast du zufällig gesehen, wo hier die Klos sind? - Ah, da.«
Sascha sah ihr nach, beobachtete, wie sie sich zwischen den eng platzierten Tischen durchschlängelte. Hübsch war sie ja, wenn man von ihren zurückgekauten Nägeln mal absah. Irgendwie süß. Und eher deine Liga, hörte er eine Stimme in seinem Kopf sagen. Joys Stimme, wie ihm nach ein paar Sekunden klar wurde."
„EINE STUNDE SPÄTER verließen sie das Café in gelöster Stimmung. Wie sich herausgestellt hatte, besuchten sie dasselbe Gymnasium, Natalie zwei Klassen unter ihm. Natalie redete nicht gerne über die Schule. Oder über sich. Dafür konnte sie stundenlang über Musik quatschen.
»Finde ich ja echt toll, dass du Rihanna magst«, fing sie auf dem Weg zur Bushaltestelle wieder an. »Ich dachte immer, Jungs stehen da eher nicht so drauf.«
»Sie hat ein paar richtig geile Songs«, gab Sascha zu. »Love the Way You Lie, zum Beispiel. Oder Umbrella.«
»Du weißt schon, dass Love the Way You Lie eigentlich von Eminem ist, oder? Eminem featuring Rihanna, heißt es. Supergeil ist es aber trotzdem. Ich hab übrigens eine CD mit allen meinen Lieblingssongs von ihr. Kann ich dir brennen, wenn du willst.«
»Klar. Und wie sieht's mit Filmen aus? Worauf „stehst du da so?«
»Alles Mögliche.« Sie überlegte kurz, dann sagte sie: »Wir können ja mal ins Kino gehen. Aber ich such den Film aus.«
»Klar, gerne.«
Läuft ja super, dachte Sascha. Auf jeden Fall war es kein Fehler gewesen, mit ihr einen Kaffee zu trinken. Sie konnte nicht nur richtig nett sein, sondern auch witzig.
Sie erreichten die Haltestelle genau in dem Moment, in dem der Bus einfuhr. Zischend glitten die Türen auseinander. Ein paar Leute stiegen aus, ein paar ein. Sascha half einer jungen Mutter mit dem Kinderwagen, während Natalie schon nach hinten ging, um Sitzplätze zu suchen.
»Alina!«, hörte er sie rufen. »Das ist ja mal eine Überraschung.«"
„Als er sich umschaute, saß sie schon neben einem blonden Mädchen und redete heftig auf sie ein. Sieht aus, als wäre ich abgemeldet, dachte er enttäuscht. Warum musste diese Freundin ausgerechnet jetzt auftauchen! Einfach das Feld räumen wollte er aber auch nicht. Er ging zu den beiden, und da ringsum kein Platz frei war, stellte er sich neben sie. Natalie aber kümmerte sich weiter nur um ihre Freundin.
»Wo steckst du denn die ganze Zeit?«, redete sie auf diese Alina ein. »Ich hab mir echt Sorgen gemacht. Meldest dich nicht, rufst nicht mal zurück.«
»Hab halt gerade ... wenig Zeit ...«
So, wie Alina sich wand, war ihr die unverhoffte Begegnung eher peinlich. Sie sah Natalie nicht ein einziges Mal an. Stattdessen schaute sie entweder stur auf den Hinterkopf ihres Vordermanns oder aus dem Fenster, wo es eigentlich nichts zu sehen gab."
„»Du hast 'nen Freund, oder? Gib's zu!«
»Nein, hab ich nicht.«
»Lüg nicht! Ich weiß es.«
»Von wem?«
Alinas Kopf war abrupt herumgefahren. Sie hatte ein feines Gesicht, fand Sascha, zusammen mit den blonden Haaren wirkte es geradezu elfenhaft.
»Deine Mutter hat so was angedeutet.«
»Ach die, die hat doch keine Ahnung.«
»Wenn du keinen Freund hast, was ist dann? Bist du wieder depressiv, oder was?«
»Quatsch, mir geht's super.«
Natalie schnaubte. »Erzähl mir doch nicht so einen Scheiß, Alina. Sind wir so überhaupt noch Freundinnen?«
Alina stand auf. »Lässt du mich raus? Die Nächste ist meine.«"
„Nur widerwillig gab Natalie den Weg frei. Alina zwängte sich an ihr vorbei. Froh, Natalie bald wieder für sich zu haben, trat Sascha einen Schritt zurück. Auf halber Strecke zur Tür drehte Alina sich noch einmal um, blickte Natalie an, als wollte sie etwas sagen, doch dann wandte sie sich wieder ab und ging zur Tür. Natalie schaute ihr mit zusammengepressten Lippen nach. Sascha spürte ein Grummeln im Bauch, weil sie ihn noch immer nicht wahrzunehmen schien.
»Rutschst du rein?«, machte er sich bemerkbar.
Sie blickte kurz zu ihm auf, dann rückte sie ans Fenster, und er setzte sich neben sie.
»Sorry, aber ... Wenn die sich verknallt, vergisst sie alles und jeden.« Auf ihre Wangen waren rote Flecken getreten. »Soll sie glücklich werden. Ich versteh nur nicht, warum sie so ein Riesengeheimnis draus machen muss. Ich hab ihr immer alles erzählt. Das ist doch wie Verrat, so was, oder?«"
„Sascha sagte lieber nichts. Er wusste ja noch nicht mal, was eigentlich los war. Wie es aussah, erwartete Natalie ohnehin keine Antwort, denn sie starrte nur Alina an, so als wolle sie um jeden Preis noch einen Blickkontakt erzwingen. Vergebens.
Der Bus hielt an, und die Leute stiegen aus. Alina ging, ohne hochzuschauen, unter ihrem Fenster vorüber und verschwand hinter einer Ecke. Als Natalie den Kopf wieder herüberwandte, glaubte Sascha ein feuchtes Glitzern in ihren Augenwinkeln zu bemerken. Anscheinend war das nicht bloß das übliche Freundinnengezicke gewesen. Alinas Treulosigkeit ging ihr wirklich zu Herzen.
»Freundschaft ist mir echt wichtig«, sagte sie mit bebender Stimme, »Treue und so.«
Sascha war, als meine sie nicht nur Alina, sondern ein kleines bisschen auch ihn. Zu gerne hätte er ihre Hand tröstend in die seine genommen. Aber er tat es nicht.

"Stirb leise,mein Engel"Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt